: Die letzte deutsch-jüdische Symbiose
Historikerin Sonia Combe forscht zu kritischen Marxist:innen in der DDR. Eine Rolle dabei spielen Jüd:innen
Während in einigen Ländern des Ostblocks blutige Aufstände tobten – Ungarn, Polen, Tschechoslowakei – blieb es in der DDR all die Jahre verhältnismäßig ruhig. Einzelne Personen gingen zwar immer wieder gegen das Regime vor und im Berliner Prenzlauer Berg formierte sich eine Art kreative Widerstandsszene, doch zu großen Protestdemonstrationen kam es quasi erst am Vorabend des Mauerfalls.
Was die DDR von ihren östlichen Bruderländern unterscheidet, dazu forscht die Historikerin Sonia Combe. Über die „kritischen Marxisten in der DDR“ hat die Französin ein Buch geschrieben, das sie anlässlich der baldigen deutschen Übersetzung am Dienstag online im Potsdamer Einstein Forum vorgestellt hat. Dabei stellt Combe eine gewagte These auf: Die DDR sei der letzte Ort der deutsch-jüdischen Symbiosen gewesen.
Um das zu erklären, geht Combe bis zur Staatsgründung zurück. Unter den Gründervätern und -müttern der DDR fanden sich nicht wenige während der Nazizeit geflohene Rückkehrer:innen: Helene Weigel aus den USA, Arnold Zweig aus Palästina, Anna Seghers aus Mexiko – viele der Remigrant:innen waren Kommunist:innen und Jüd:innen. Im sowjetischen Sektor fühlten sich diese sicher, so argumentiert Combe, weil die hochrangigen Nazis mit dem Einfall der Roten Armee gen Westen geflohen seien. Im Grunde stimmt das: Dass sich auch unter den SED-Mitgliedern viele ehemalige NSDAP-Mitglieder fanden, ist zwar bekannt, doch die Führungsebene der DDR war prinzipiell mit unbelasteten Personen besetzt.
Obwohl es keine offene Opposition gab, übten die DDR-Intellektuellen innerhalb der Partei durchaus Kritik, sagt Combe. „Es gab eine Ethik des Schweigens.“ Öffentliche Kritik war unerwünscht, um „den Feind“ nicht zu stärken. Die Jüd:innen in der DDR glaubten, dass der Kommunismus sie vor einem erneuten Holocaust schütze, so Combe. Tatsächlich konnten Jüd:innen in der DDR, die sich als antifaschistischer Staat begriff, weitgehend unbehelligt leben. Entschädigt wurden die Opfer des NS so aber auch nicht, da sich die DDR nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs sah.
Die Jüd:innen in der DDR begriffen sich als „nichtjüdische Juden“, sagt Combe, auf den kommunistischen Denker Isaac Deutscher verweisend. „Im Nachkriegsdeutschland hatte die kommunistische Identität ihre jüdische ersetzt.“ Die Wiedervereinigung stellte so eine doppelte Niederlage dar. Nun war man wieder Bürger:in eines Staates, in dem einstige Nationalsozialist:innen wichtige Positionen in Justiz, Verwaltung und Politik bekleiden konnten.
Combe geht es auch darum, zu begründen, warum so viele Intellektuelle trotz der Enttäuschung über ihren Staat nicht in den Westen gingen. „Die Geschichte der DDR wird geschrieben von westdeutschen Historikern“, sagt sie. Demnach würden jene Gebliebenen als „nützliche Idioten“ des Regimes dargestellt.
Sie glaubt, dass eine Reformation der DDR möglich gewesen wäre, wenn die Intellektuellen nicht erst 1989 protestiert hätte. „Das Schreien in der Wüste war der Preis für die Loyalität der kritischen Marxisten“, sagt sie.
Julia Hubernagel
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