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Buch über Marcel und Adrien ProustSeele und Hygiene

Zwischen Pandemie und Nervosität: Welche Auswirkungen die Krankheiten einer Epoche auf die Literatur haben, zeigt ein Buch von Lothar Müller.

Fotos von Marcel Proust. Es gibt kein gemeinsames Foto von Vater und Sohn Foto: Christophe Petit Tesson/picture alliance/ dpa

Im Paris des Jahres 1830 mag man ähnlich gefühlt haben wie im Paris des Jahres 2020. Eine neue Pandemie hatte die Stadt erreicht. Aus Indien war sie über russische Truppen nach Westeuropa gelangt und hatte sich zu einem internationalen Problem entwickelt. Der Zusammenhang ihrer Ausbreitung mit den Dynamiken der Globalisierung war bereits damals den Menschen bewusst und damals kollidierten wie heute präventive Quarantänemaßnahmen mit ökonomischen Interessen.

Die Cholerapandemie kam in mehreren Wellen und wurde im 19. Jahrhundert zum Katalysator für vieles Neue – von der Bakteriologie bis hin zum Städtebau und der Sozialpolitik. Mit der Ausbreitung der Cholera entstand auch die internationale Gesundheitsdiplomatie; in ihr spielte Adrien Proust eine zentrale Rolle.

Proust war als Arzt Chef der öffentlichen Hygiene der Dritten Französischen Republik (1870–1940) und ein Pionier der Epidemiologie, der mit Robert Koch die Anlage von Quarantänestationen diskutierte. Zu seinem Tod im Jahr 1903 würdigte ihn die Zeitung Le Figaro auf Seite eins als „Schöpfer der internationalen Hygiene“. In Vergessenheit geriet er außerhalb der Medizingeschichte dennoch – ganz anders freilich sein Sohn Marcel Proust, der mit „À la recherche du temps perdu“, kurz Recherche genannt, den wohl wichtigsten französischen Roman des 20. Jahrhunderts verfasst hat.

Nun könnte man die Biografie des Vaters schreiben oder im Leben und Werk des einen Proust die Spuren des anderen suchen, aber der Literaturkritiker Lothar Müller hat mit seinem Buch „Adrien Proust und sein Sohn Marcel“ etwas viel Interessanteres getan. Müller hatte die berauschend gute Idee, Vater und Sohn als Beobachter ihrer erkrankten Gegenwart zu porträtieren. Herausgekommen ist ein luzider Streifzug durch zwei ganz unterschiedliche Werke, der zeigt, wie die Krankheitsbilder des Fin de Siècle und der Belle Époque in ihnen sich niederschlagen.

Wo die Elite kommuniziert

Medizin und Literatur verbinden sich im späten 19. Jahrhundert vor allem in den Salons der Verdurins, der Saint-Euvertes und Daudets und so weiter, dort kommuniziert und reproduziert sich die Elite, dort verschränken sich medizinischer, politischer und künstlerischer Diskurs. Wie der Vater ist auch der Sohn ein eifriger Besucher der Salons. Das Erinnerungsmaterial, das Marcel Proust dort anhäuft, so Müller, wird in seinen Roman eingehen – „in die Physiologie des Geschwätzes und der geistreichen Plauderei, der peinlichen Kalauer und geschliffenen Sottisen“.

Lothar Müller: „Adrien Proust und sein Sohn Marcel. Beobachter der erkrankten Welt.“ Wagenbach Verlag, Berlin 2021, 224 S., 22 Euro

Adrien Prousts Projekt hingegen war die Entwicklung eines internationalen hygienischen Überwachungsinstruments, das flexibler und durchlässiger sein sollte als der klassische starre Cordon sanitaire, der 1830 die Ausbreitung der Cholera nicht hatte verhindern können, so Müller. Dafür erforschte er den Raum und die Bewegungen in ihm. Dass die Cholera über Ansteckungen von Mensch zu Mensch sich ausbreitete, war damals durchaus noch umstritten und Gegenstand internationaler Kontroversen, die Proust maßgeblich mitbestimmte.

Vor allem die Pilgerfahrten nach Mekka beschäftigten Proust als Ansteckungsrisiko und machten die Regulierung der Schiffspassagen durch den 1869 fertiggestellten Suezkanal zu einem zentralen Punkt seiner Pandemiebekämpfung. Freilich waren seine Forschungsreisen wie seine Stellung in der Dritten Republik als solche untrennbar mit den französischen Kolonialinteressen verbunden.

Wie der Präsident der Dritten Republik, Félix Faure, sah auch Proust sich im Dienst der „zivilisatorischen Macht“ Frankreichs. Müller zeigt, wie Adrien Proust in seinen zahllosen Schriften ein „anthropologisch-linguistisches Tableau“ entwirft, das die koloniale Expansion legitimiert und teil hat „an der rassistischen Grunddrift in weiten Teilen der Anthropologie des 19. Jahrhunderts“.

Echos aus der realen Welt

Fast überflüssig zu erwähnen, dass in diesem Milieu auch der Antisemitismus selbstverständlich war. Anlässlich des offenen Antisemitismus der politischen Elite in der Dreyfus-Affäre kommt es zwischen Vater und Sohn Proust jedoch kurzzeitig zum Zerwürfnis. – In der Recherche wird Swanns jüdische Herkunft mehr und mehr zum Problem.

Müller findet in den Motiven und Figuren der Recherche Echos aus der realen Welt. Er kann auch zeigen, wie die Pathologien der Zeit und die große Macht der Mediziner ein „unverzichtbarer Nährboden“ sind, aus dem Marcel Proust schöpft: Charles Swanns Liebe zu Odette de Crécy wurde „inoperabel“ und seine Eifersucht pathologisch.

Nicht zu vergessen das Asthma, das den zur Hypochondrie neigenden Marcel Proust intensiv beschäftigt. Müller findet es in vielen überraschenden und unterschiedlichen Facetten in der Recherche wieder: die „literarisch ergiebigste ist, dass es den Schlaf gefährdet“ – weil der Schlaf selbst „eine der Großfiguren“ des Romans ist.

Am interessantesten ist Müllers Buch jedoch, wo er eine Ebene tiefer bohrt und die Frage nach den in beider Werke enthaltenen Formen des Wissens aufgreift – wozu die „enzyklopädischen Ambitionen“ in der Recherche ebenso zählen wie die noch junge öffentliche Hygiene (hygiène publique) in der Medizin, die mit ihrem Ensemble von Regeln wie eine „Allesfresserin“ über alle Lebensbereiche sich ausdehnt.

Bevölkerung als Körper

Denn, wie man an dieser Stelle hinzufügen kann: Die „öffentliche Hygiene“ hatte zwar einen Vorläufer in der Individualhygiene, wie sie zur Zeit der Aufklärung thematisiert worden war, war aber zugleich etwas anderes. An die Stelle des individuellen Körpers und des Individuums, „das auf sich selbst einwirkt“, wie Michel Foucault es formulierte, rückte nämlich nun die Bevölkerung als zu lenkender Körper.

Man kann die Bedeutung und die Verästelungen des neuen Hygienediskurses kaum überschätzen, aber die paradigmatische Krankheit des Fin de Siècle ist nicht die Cholera, sondern die Neurasthenie, die eine Vielzahl von Symptomen fasst: Schlaflosigkeit, Kopfschmerz, Angstzustände, Hysterie etc.

Neurasthenie, auch Nervosität genannt, bezeichnet ein Krankheitsbild, das vielleicht gerade wegen seiner Unschärfe, wie Müller feststellt, als Projektionsfläche und der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung dient (wie heute vielleicht der Narzissmus). Bereits die Zeitgenossen brachten die Neurasthenie in Verbindung mit dem beschleunigten (Großstadt-)Leben, der Verschiebung von Klassenschranken oder der Elektrifizierung gar.

Das Fin de Siècle jedenfalls ist die Zeit, in dem die psychischen Innenwelten wie nie zuvor in den Blick genommen werden. Ist es nur ein Zufall, dass Marcel Proust mit seiner Recherche einen introspektiven Roman geschrieben hat?

An der Salpetrière

Wer über die psychischen Innenwelten sprechen möchte, kommt nicht umhin, sich mit Jean-Martin Charcot zu beschäftigen, dem Leiter der mythologisierten psychiatrischen Klinik Salpetrière. Charcot erforschte mittels der Hypnose die Hysterie. Auch Sigmund Freud besuchte Charcots Vorlesungen und entwickelte aus den Einsichten, die er dort in die Hysterie bekam, seine Neurosenlehre.

Müller zeigt eindrücklich, wie in Charcots berühmter „Leçon du mardi“ Klinik, Salon und Literatur sich verbanden, sei es in der Zuhörerschaft oder weil „die Mediziner der Salpetrière in den Figuren des Theaters und der Literatur Verwandte ihrer Patienten“ fanden. Von Menschen mit „zwei Ichs“ oder einem „doppelten Bewusstsein“ war die Rede, auch Adrien Proust hatte Patient:innen, die er so charakterisierte. Aus dem Kreis um Charcot gibt es etliche Verbindungen zu Adrien und Marcel Proust.

Im Salon der Daudets jedoch, wo Marcel Proust verkehrt, regt sich Widerstand gegen die enorme Macht Charcots und der Ärzte im Allgemeinen. Der viel gelesene Romanautor Alphonse Daudet veröffentlicht 1894 als ehemaliger Patient Charcots in der Rubrik „Erinnerungen von Zeitgenossen“ des Figaro eine literarische Reportage, die zeigt, wie die Patienten der Salpetrière den Ärzten ausgeliefert sind.

Obzwar es im Hintergrund auch um das spektakuläre Scheitern einer Beziehung zwischen Charcot- und Daudet-Sprösslingen geht, dokumentiert der Artikel Müller zufolge etwas Größeres, nämlich den Aufstand einer jüngeren, politisierten Generation gegen die Elite, die dem Ruf des Fin de Siècle als apolitische Zeit widerspreche.

Kommunizierende Röhren

Lothar Müller ordnet die zentralen Akteure und Quellen der Pariser Gesellschaft wie auf einem Tableau an und fächert entlang der Linien, die sie miteinander verbinden, ein Stück Wissenschafts- und Kulturgeschichte auf. Manchmal ist sein Gegenstand bloß ein Gemälde, anhand dessen er die diskursiven Felder und institutionellen Verbindungen aufdröselt.

Müllers Buch eröffnet so nicht nur einen außergewöhnlichen Blick auf das Werk Marcel Prousts, es ist auch ein reiches Kompendium über das Fin de Siécle und die Veränderungen der Grundkonstanten des politischen, künstlerischen und alltäglichen Lebens. Am Ende der Lektüre liegt „das System kommunizierender Röhren“ zwischen Literatur und Medizin im späten 19. Jahrhundert, das Müller sichtbar machen möchte, offen vor den Leser:innen.

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