„Es ist unfassbar“

Olivia Garvey lehrt islamische Studien in Leeds. Dass die Täter aus ihrer Nachbarschaft kommen sollen, hat sie vollkommen überrascht

taz: Mrs Garvey, Sie waren am vorigen Donnerstag in London und sind um zehn Uhr am Bahnhof King's Cross angekommen – kurz nachdem die Bomben explodiert sind.

Olivia Garvey: Ja, das stimmt. Es herrschte absolutes Chaos. Das war ein sehr erschreckendes Erlebnis für mich, wenn man bedenkt, dass ich Glück hatte und davongekommen bin. Andere hatten dieses Glück nicht.

Die Polizei hat bekannt gegeben, dass die vier Selbstmordattentäter von London Muslime sind, die in Großbritannien geboren sind, und dass drei von ihnen aus Leeds stammten. Überrascht Sie das?

Ja, allerdings. Ich arbeite in der Weiterbildung für Erwachsene, und Teil unserer Arbeit ist ein Programm für islamische Studien. Es geht dabei auch um Geschichte und die arabische Sprache. Es ist ein Programm für Muslime und Nichtmuslime, es dient dazu, das Bewusstsein füreinander auf beiden Seiten zu wecken. Deshalb ist das, was heute herausgekommen ist, für mich unfassbar. Eine der kontrollierten Explosionen, die die Polizei durchgeführt hat, geschah gleich um die Ecke von meiner Wohnung. Ich habe das aber erst aus dem Fernsehen erfahren, weil ich unterwegs war.

War das Programm für islamische Studien eine Idee der Universität?

Nein, es ist zustande gekommen, weil viele Muslime darum gebeten haben. Sie wollten den Islam und seine Geschichte besser verstehen, und zwar von einem säkularen Gesichtspunkt aus, nicht unbedingt von einem religiösen, wie er in Moscheen gelehrt wird. Die Teilnehmer an unserem Seminar wollen die Kultur besser verstehen. Es ist sozusagen ein Programm, das dem Fanatismus entgegenwirkt. Und es ist sehr erfolgreich, wir machen das jetzt seit sechs Jahren.

Wie sieht es im Alltag in Leeds aus? Was ist das für eine Stadt?

Wir haben seit acht bis zehn Jahren einen starken wirtschaftlichen Aufschwung in Leeds erlebt. Die Stadt ist zu einem Finanzzentrum geworden, einige Banken und Versicherungen haben in Leeds ihren Hauptsitz. Und auch der Nationale Gesundheitsdienst und verschiedene Regierungsbehörden haben sich in Leeds angesiedelt. Viele Topmanager pendeln zwischen London und Leeds. Neulich führte eine Frau ein Fernsehteam durch Leeds und zeigte ihm, dass Harvey Nichols, das Designerkaufhaus, hier inzwischen auch eine Filiale hat. Das habe die Bedeutung der Stadt schlagartig erhöht, sagte sie. Dann ging sie mit dem Kamerateam acht Minuten zu Fuß zu einer der am schlimmsten vernachlässigten Wohnsiedlungen der Gegend.

Also ist die Schere zwischen Armen und Reichen seit dem Aufschwung größer geworden?

Ja, natürlich ist sie das. Es gibt viel Arbeitslosigkeit, aber das größere Problem sind die vernachlässigten Sozialbausiedlungen, in die nichts investiert wird – vor allem in der Innenstadt und den angrenzenden Vierteln, wo viele Menschen pakistanischer, bangladeschischer und afrokaribischer Herkunft leben. Dieses Problem ist bisher vernachlässigt worden.

In den vergangenen 20 Jahren kam es immer wieder zu Unruhen in Leeds und der Nachbarstadt Bradford, die weltweit Schlagzeilen gemacht haben. Haben die Integrationsprojekte, die immer mal wieder propagiert worden sind, versagt?

Man kann die beiden Städte nicht miteinander vergleichen, auch wenn sie dicht nebeneinander liegen. Bradford hat eine viel höhere Konzentration von ethnischen Minderheiten. In Leeds sind es vielleicht 20 Prozent in der Innenstadt, in Bradford liegt die Zahl doppelt so hoch, und die Sozialbauwohnsiedlungen sind stärker vernachlässigt als in Leeds. Darüber hinaus hat Bradford keinen vergleichbaren wirtschaftlichen Aufschwung erlebt wie Leeds.

Aber in Leeds hat es 1995 und 1997 auch erhebliche Krawalle gegeben.

Das hatte aber nichts mit ethnischen Minderheiten zu tun. Die Krawalle entstanden in den weißen Arbeitervierteln, da kämpften keine ethnischen Gruppen. In einem Fall wurden die Krawalle, soweit ich weiß, durch Drogenrazzien ausgelöst. INTERVIEW: RALF SOTSCHECK