Die Nachricht schlägt ein

Nachdem die vier Attentäter identifiziert sind, mischt sich in die britische Terrordebatte Hilflosigkeit: Es waren junge Briten pakistanischer Herkunft

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

Es waren Briten! Die Nachricht, dass die vier Selbstmordattentäter, die vorigen Donnerstag in London drei U-Bahnen und einen Bus in die Luft gesprengt haben, aus dem nordenglischen Leeds stammen, hat in Großbritannien Fassungslosigkeit ausgelöst. Die meisten Zeitungen druckten gestern die Geburtsurkunde von Shehzad Tanweer ab, der die Bombe in der U-Bahn bei Aldgate gezündet hat, als ob man es sonst nicht glauben könnte, dass „die Bomber britische Staatsbürger waren und unter uns lebten“, wie es die BBC ausdrückte.

Keiner der vier war den Behörden bisher aufgefallen. Der 22-jährige Tanweer stammt aus einer wohlhabenden Familie pakistanischer Einwanderer. Sein Vater betreibt ein Imbisslokal, die Familie lebt in einem komfortablen Haus im Stadtteil Beeston. Shehzad studierte Sport und spielte in seiner Freizeit Cricket. Sein Freund, der 19-jährige Hasib Hussain, war in seiner Nachbarschaft ebenfalls sehr beliebt. Vor zwei Jahren entwickelte er ein starkes Interesse am Islam und pilgerte nach Mekka. Seine Familie sah aber keine Anzeichen dafür, dass er zu einem radikalen Muslim geworden war. Seine Mutter meldete ihn vorigen Donnerstag als vermisst und befürchtete, dass er Opfer der Anschläge in London geworden sei.

Polizei entdeckt Bombenfabrik

Das gab der Polizei den entscheidenden Hinweis. Sie identifizierte Hussain als den Bus-Attentäter und entdeckte ihn mit drei anderen Männern auch auf den Bändern einer Überwachungskamera, die kurz vor den Explosionen am Bahnhof King's Cross aufgenommen worden waren.

Der dritte Attentäter, der 30-jährige Mohammed Sidique Khan, war verheiratet und hatte ein acht Monate altes Baby. Seine Frau meldete ihn nach den Anschlägen ebenfalls als vermisst. Der Name des vierten Attentäters wurde bisher nicht bekannt gegeben, aber die Polizei bestätigte gestern, dass auch dieser Attentäter aus Leeds stammt. Seine Leiche liegt noch in der U-Bahn tief unter King's Cross, wo die Bergungsarbeiten wegen des engen Tunnels noch tagelang weitergehen werden.

Die Polizei hat vorgestern die Häuser der vier Terroristen und mehrerer anderer Personen, die mit ihnen in Verbindung standen, durchsucht und eine Bombenfabrik entdeckt. Das deute darauf hin, dass weitere Anschläge geplant seien, sagte ein Sprecher. Das Auto, in dem einer der Attentäter zum Bahnhof Luton gefahren ist, enthielt ebenfalls Sprengstoff. Die Ermittler erhoffen sich nun von der forensischen Untersuchung der Häuser Hinweise auf Verbindungsmänner. Es sei ausgeschlossen, sagte ein Polizeisprecher, dass die vier selbstständig gehandelt haben. Möglicherweise seien sie von Al-Qaida-Führern aus dem Ausland angeworben und mit Bomben ausgerüstet worden.

Die britische Regierung beriet gestern mit der Polizei, ob eine Verschärfung der Antiterrorgesetze sinnvoll sei. Innenminister Charles Clarke würde gerne so schnell wie möglich europaweit Personalausweise mit biometrischen Daten einführen. Premierminister Tony Blair sagte gestern Mittag vor dem Unterhaus, man bereite Gesetze vor, die die Einreise unliebsamer Personen erschweren oder – sollten sie durchs Netz schlüpfen – ihre Abschiebung vereinfachen sollen. Er räumte allerdings ein, dass es damit nicht getan sei. Er bezeichnete die Anschläge als Ergebnis einer „pervertierten Fehlinterpretation des Islam“ und sagte etwas hilflos, man müsse gemeinsam mit den moderaten muslimischen Führern beraten, wie die Rekrutierung potenzieller Attentäter verhindert werden könne. Die Gespräche sollen umgehend beginnen.

Der Chef der britischen Liberalen brach vorgestern mit der unausgesprochenen Übereinkunft der drei großen Parteien, Einheit zu demonstrieren. Bisher galt der Satz, den John Cleese in der Fernsehserie „Fawlty Towers“ berühmt gemacht hat: „Don't mention the war.“ Doch Kennedy erwähnte den Krieg. „Die Invasion in den Irak hat die Bedingungen begünstigt, in denen der Terrorismus aufblüht“, sagte er. Blairs Sprecher bezeichnete Kennedy als naiv. „Diese Art von Terroristen waren lange vor dem Irakkrieg aktiv“, sagte er. „Die Anschläge vom 11. September in den USA geschahen schließlich im Jahr 2001 und nicht 2003.“

Tödliche Attacke auf Pakistaner

Die britischen Geheimdienste haben Blair informiert, dass bis zu 200 britische Muslime bereit zu Selbstmordattentaten seien, 50 davon seien sofort einsatzbereit. Das Problem ist: Kein Geheimdienst weiß, wer sie sind. Wie die vier Londoner Attentäter sind die meisten von ihnen in Großbritannien geboren und bisher nicht aufgefallen. Und gegen Briten, die sich mit einer Bombe selbst in die Luft sprengen, ist sowohl die stärkere Überwachung der Grenzen, als auch die größte Wachsamkeit der Bevölkerung machtlos.

Für Großbritanniens muslimische Bevölkerung brechen noch schwerere Zeiten an, nachdem sich nun die Vermutung bewahrheitet hat, dass die Attentäter ihres Glaubens waren. Die Zahl der rassistisch motivierten Attacken ist direkt nach den Anschlägen stark in die Höhe geschnellt, weit über hundert Angriffe wurden der Polizei gemeldet. Mehrere Moscheen wurden angezündet, und am Sonntag wurde der 48-jährige Pakistaner Kamal Raza Butt in Nottingham von sechs Jugendlichen zusammengeschlagen und getötet.