Die fatalen Folgen der Liebessehnsucht

Die Kölner Orangerie inszeniert Christine Angots Roman „Inzest“ als erlebenswertes Live-Hörspiel

Drei Monate sei sie homosexuell gewesen, sagt die Erzählerin. Drei Monate krank vor Liebe, infiziert mit einer Sehnsucht, die ihr eigentlich zuwider ist. Denn das Lesbische ist ihr nicht geheuer. Zwei Frauen im Bett? Für sie ist das Inzest. Und damit kennt sie sich schmerzlich aus – seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Christine Angots Roman „Inzest“ provozierte 1999 in Frankreich einen derartigen Skandal, dass die Autorin sogar ihren Wohnort Montpellier verlassen musste und nach Paris zog. Themen wie Missbrauch durch den Vater und Homosexualität als verkappter Inzest. Dazu eine Sprache, die die Macho-Frage „Was machen Lesben eigentlich im Bett?“ bis ins kleinste Detail beantwortet. Diese Dinge führten dazu, dass Angots vermeintlich autobiografischer Roman im Heimatland als „écriture choc“ bekannt wurde.

In Absprache mit der Autorin ist die explosive Prosa in der Kölner Orangerie am Volksgarten als Bühnenstück zu sehen. Oder besser: Als Hörbuch im Sitzen. Seitlich an einem Holztisch sitzt eine Schauspielerin, um sie herum im Halbkreis das Publikum, sehr nah, so dass der Eindruck eines Kammerspiels oder eines intimen Küchengesprächs entsteht. Oder einer Gruppentherapie. Unter der Regie von Thomas Linden trägt Heidrun Grote zwei der drei Teile des Romans vor, monologisiert fünfzig Minuten lang, zunächst über die Liebe der Ich-Erzählerin zur zehn Jahre älteren Ärztin, später über die traumatischen Erlebnisse mit dem Vater.

Die größte Leistung von Regisseur und Darstellerin besteht darin, die Angotschen Wortkaskaden auf sinnvolle Weise zu bremsen, ohne dass der Sinn für das Skurrile und Sprunghafte der Assoziationen verloren geht. Heidrun Grote spricht langsam, schafft es durch die Eindringlichkeit ihrer Stimme, durch den lapidar-ironischen Duktus ihres Vortrags, die ZuhörerInnen durch das Dickicht eines Romans zu führen, der es seinem Publikum nicht leicht macht. Denn Angots Text kennt keine Grenzen, geht jedem Erzählimpuls gnadenlos nach, legt eine Seele in all ihren Verästelungen bloß, ist Dokument radikaler sexueller Offenheit. Und schießt gerade dabei oft über das Ziel hinaus: Nicht jede Einzelheit über Vaginalsekrete muss die Welt wissen, nicht jede Farbschattierung der äußeren Schamlippen bringt eine Erzählung weiter.

Interessanter wird es gegen Ende, wenn sich aus endlosen sexuellen Reflexionen ganz langsam und leise die Ungeheuerlichkeiten herausschälen, die dem verkrampften Körper und der verstörten Seele der Protagonistin zugrunde liegen – die Missbrauchserfahrungen mit dem eigenen Vater. „Es zerreißt mich darüber zu reden“, sagt sie und tut es doch. Tut es so überzeugend, dass einem gruselt vor so viel sexueller Ausnutzung, die sich hinter scheinheiliger Überredung versteckt und zum selbstverständlichen Teil des Alltags wird. Heidrun Grote gelingt es, diese Textpassagen so vorzutragen, dass sie treffen, ohne betroffen zu machen, und ohne dass sich falsches Pathos in den sachlichen Tonfall einschleicht.

In ihrem Roman gehe es nicht um Inzest, hat Christine Angot einmal gesagt. Sie hat Recht. Es geht um Liebessehnsucht und ihre fatalen Folgen, um Nachgiebigkeit und Gier nach Anerkennung, ums Gefallen-Wollen und mangelnde Verteidigung seelischer und körperlicher Außengrenzen – und um das Ausnutzen dieser Schwächen durch Andere, Stärkere. Diese Themen schwingen mit, wenn Heidrun Grote aus dem Skandalroman zitiert. Trotz aller Vorbehalte gegenüber Inszenierungen, in denen nichts passiert, außer dass jemand frontal ins Publikum monologisiert.

HOLGER MÖHLMANN

Inzest20. und 21. Juli, 21:00 UhrOrangerie am Volksgarten, Köln Infos: 0221-9522708