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Tunesien: So tun, als ob

Fastenmonat? Corona? Egal. Man kann am Tage essen und nachts feiern

Aus Tunis Mirco Keilberth

In Tunesien sind die Einschnitte in das tägliche Leben recht moderat. Nach Beschwerden der Gewerkschaften und des Gas­tro­no­mie­ver­bandes hat Premierminister Mechichi die erst letzte Woche auf 19 Uhr vorverlegte Ausgangssperre wieder auf 22 Uhr geschoben. Nun können die Restaurants nach dem abendlichen Fastenbrechen immerhin mit Kunden rechnen.

Doch die meisten Menschen werden dieses Jahre schon aus Kostengründen die üppigen Iftar-Mahlzeiten im Kreise der Familie genießen. „Die Familientreffen sind doch lauter Superspreading-Abende“, lacht Mohammed Hamed in Tunis. Sein Café „Richelieu“ ist eines der wenigen Lokale in der tunesischen Hauptstadt, in dem man während des Ramadan auch am Tage essen und trinken kann.

Gesetzlich sei niemand zum Fasten verpflichtet, sagt Hamed. Die üblichen Kampagnen von Islamisten gegen tagsüber offene Restaurants werden dieses Jahr nicht erwartet. Die großen Fensterscheiben des „Richelieu“ waren in den letzten Jahren mit Zeitungspapier verdeckt – dieses Jahr reichen Werbeplanen vor der Terrasse. Doch wird am Eingang die Temperatur gemessen, auf dem Weg zum Tisch gilt Maskenpflicht. „Der öffentliche Raum ist sicherer als die Familientreffen“, so Hamed.

Aber wie passen Fasten, die Anti-Corona-Maßnahmen, eine handfeste sozialen Krise, der Machtkampf zwischen den politischen Lagern im Land und die jüngste Welle von Straßenprotesten zusammen? „Mal sehen, ob der kommende Monat die Lage beruhigt oder eine Eskalation birgt“, sagt ein Redakteur der staatlichen Nachrichtenagentur TAP (Tunis Afrique Presse). Die Antwort erhielt er schneller als erwartet: Eine urplötzlich auftauchende Spezialeinheit der Polizei drängte in den ersten Stunden des Ramadan in das Gebäude, vor dem in den letzten Tagen Redakteure mit handgemalten Plakaten gegen die Einsetzung ihres neuen Geschäftsführers protestiert hatten. Die Mehrheit der TAP-Angestellten sehen in Kamel Ben Younis einen Lobbyisten der Islamistenpartei Ennahda. Nach einem kurzen Handgemenge und unter Beleidigungen verließ Younis sein Büro am Nachmittag wieder. Die Nerven liegen zu Beginn des Fastenmonats blank.

An den Tischen des „Richelieu“ wird nur kurz über den Sturm auf die TAP-Journalisten diskutiert. „Ich klinke mich für vier Wochen aus der Krise aus“, sagt eine Studentin. „Für mich ist der Ramadan eine Pause von der Politik.“

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