Andere Stimmen, andere Räume

Wer als Kind den Boden unter den Füßen verliert, fühlt sich nie mehr sicher: Lore Segals Erzählungen „Die dünne Schicht Geborgenheit“

VON MARGRET NITSCHE

Gerti Grüner ist eine klassische Nervensäge. Sitzt ganz vorn in der Klasse, meldet sich bei jeder Frage, lädt die Lehrerin zum Essen ein – zu Wiener Schnitzel und Sachertorte mit Schlagobers. Sie kommt aus Wien, genau wie ihre Lehrerin Ilka, die verzweifelt versucht, die klebrigen Annäherungsversuche zu ignorieren. Gerti Grüner hat schon als Kind andere Menschen genervt. In Montevideo, als sie ihre Pflegeeltern mitten in der Nacht weckte, damit sie mit ihr zum Konsulat gehen und ihre Eltern vor den Nazis retten. Sie bekam dann eine andere Pflegefamilie.

Die amerikanische Autorin Lore Segal, geboren 1928 in Wien, kennt das Gefühl, nicht ganz willkommen und von der Gnade fremder Menschen abhängig zu sein. Sie flüchtete 1938 mit einem jüdischen Kindertransport nach England und wuchs dort bei Pflegefamilien auf. Später studierte sie englische Literatur, ging nach New York und lehrt seit 1968 Creative Writing und Literatur an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Sie hat drei Romane und mehrere Kinderbücher veröffentlicht. In ihrem ersten Roman, „Wo andere Leute wohnen“ („Other People’s Houses“, 1964) erzählt sie davon, wie es war, bei verschiedenen Gastfamilien zu leben, in einem fremden Land, in einer fremden Sprache, bei Menschen, die sie nicht liebten und die sie nicht liebte.

„Die dünne Schicht Geborgenheit“ ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die zuerst im New Yorker erschienen sind. Thematisch eng zusammenhängend, handeln sie fast alle von Fremdheit, Exil, Verlorenheit. Sie kreisen um die junge Lehrerin Ilka, die von New York nach Concordance kommt, um an der Uni Englisch für Ausländer zu unterrichten. Ilka ist als Kind aus Wien geflohen, und ihre „unverdaubare Geschichte der Vertreibung aus Hitlers Europa als kleines Mädchen“ bildet den dunklen Hintergrund der Erzählungen aus dem harmlos-skurrilen akademischen Leben in den Siebzigerjahren.

In der ersten Geschichte muss Ilka den Wechsel von New York, wo sie sich das erste Mal annähernd wieder zu Hause fühlte, in die Kleinstadt in Connecticut verkraften. Wieder muss sie „im Haus anderer Leute“ leben, wo sie auf der „viel zu grünen“, kalt glänzenden Tagesdecke der Hausbesitzer sitzt und fremde Menschen anruft. Es ergeben sich bizarre Gespräche, doch niemand lädt sie ein oder ruft zurück. Kollegen erkennen sie nicht wieder. Nur Gerti Grüner hängt sich an sie.

Die Erfahrung des Flüchtlingsschicksals, des Lebens in der Heimatlosigkeit und Unsicherheit, macht Segal mit knappen sprachlichen Mitteln gnadenlos deutlich. Obwohl Ilka sich gut zurechtfindet in ihrer neuen Umgebung, bleibt ihr die Welt um sich herum rätselhaft und voll Schrecken. In „Die Vertreibung aus Elizas Küche“ muss sie erleben, wie Una, ein früheres „Adoptivkind“ ihres Chefs und seiner Frau Eliza, eiskalt abgewiesen wird. Plötzlich kippt herzliche Zuneigung in Hass um, ändern sich Gefühle, einfach so: Beziehungen sind nicht verlässlich.

Segal schreibt mit großer analytischer, aber nicht kalter Distanz. Präzise und unsentimental erzählt sie davon, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt, wie ein Mensch, dem man als Kind den Boden unter den Füßen weggerissen hat, sich nie mehr sicher fühlen kann: Ilka bewegt sich wie unter einer Glasglocke, irgendwie dabei und doch von den anderen getrennt. Der Traum vom Glück zu zweit muss so jemandem viel zu gefährlich erscheinen.

Mit einer Mischung aus vorsichtiger Wehmut und trockenem Humor erzählt Segal dann, wie Ilka dennoch an einen Ehemann gerät. Auf einer Party lächelt sie ihn an, „nur weil er sie nicht reizte“, denn er ist genau wie sie „jung, dünn, jüdisch und verlegen“. Beiläufig entwickelt sich eine Affäre, beiläufig sagt sie eines Tages „Also gut“, als er sie bittet, ihn zu heiraten. Trotzdem erlebt sie, ganz vorsichtig, mit ihm eine Art von Glück, von alltäglicher Nähe und Vertrautheit– für eine kurze Zeit.

Nur in der bizarren Geschichte „Die Umkehrwanze“ bricht das Leid der Vergangenheit direkt in die beschauliche Campuswelt von Concordance ein – eine massive Wiederkehr des Verdrängten. Im Kurs „Deutsch für Ausländer“ sollen alle erzählen, wie sie in die USA gekommen sind. Schnell vermengen sich die schrecklichen Geschichten. Lateinamerika, Dachau, Hiroshima. Später am Abend, bei einer Tagung zum Thema Völkermord, wiederholt sich die Szene im Auditorium der Universität. Eine Kakophonie der Opfer hebt an, unerträglich laut. Dem absoluten Schrecken dessen, was da in Gehör und Bewusstsein dringt, steht der Aberwitz der hilflosen Bewältigungsversuche der Universitätsbürokratie gegenüber.

Gerade der alltägliche, oft etwas lächerliche Hochschulbetrieb mit seinen Eifersüchteleien, Eitelkeiten und sinnlosen Tagungsaktivitäten aber bildet tatsächlich das helle Gegenbild zur düsteren Vergangenheit. Das Leben im bürgerlich-akademischen Milieu von Concordance ist unaufregend, aber geprägt von Toleranz. Hier findet Ilka immerhin das, was sie so dringend sucht: die Möglichkeit, zumindest eine „dünne Schicht Geborgenheit“ aufzubauen. Mehr geht nicht, sagen diese Erzählungen. Aber sie berichten auch davon, wie kostbar sie ist, diese dünne, gefährdete Schicht, und wie wichtig es ist, Bedingungen zu schaffen, in der Geborgenheit hergestellt werden kann.

Lore Segal: „Die dünne Schicht Geborgenheit“. Aus dem Englischen von Ursula C. Sturm. Picus Verlag, Wien 2004, 168 Seiten, 16,90 Euro