Krimi auf den Gipfeln

Die englische Sherlock-Holmes-Gesellschaft sorgt in der Schweiz für Aufsehen. Im Outfit der 1890er-Jahre wird der Arbeit des legendären Detektivs aus der Feder von Arthur Conan Doyle gehuldigt

Die Schwarze Frau kämpft, wird nochan Land geschafft –und stirbt

VON STEFFEN GRIMBERG

„Schreib bitte nicht einfach, wir seien verrückt“, sagt die Lady mit dem großen Hut, „und außerdem stehst du auf meinem Kleid.“ Nein, verrückt ist niemand von den illustren Damen und Herren, die an diesem Mittwoch vor dem Ankunfts-Gate des Flughafens Zürich-Kloten auf ihre Mitreisenden warten. Nur definitiv zu warm angezogen. Draußen herrschen subtropische Verhältnisse, drinnen trägt mann Dreiteiler aus Tweed, darüber schwere Wollmäntel und selbstverständlich Hut. Für die Mitglieder der Sherlock-Holmes-Society London „ist es immer 1895“. Der Dresscode verpflichtet – wenigstens die Damen sehen in ihren viktorianischen Kleidern etwas luftiger aus, bleiben wegen der langen Röcke in den ersten Tagen aber noch oft irgendwo hängen.

Knapp 70 Holmesians und Sherlockians werden es am Ende sein, die ihre Pilgerfahrt auf den Spuren von Sherlock Holmes und Dr. Watson durch die Schweiz antreten. BritInnen, AmerikanerInnen, SchweizerInnen, Deutsche. Von Bern über Lausanne und Zermatt nach Meiringen, an den heiligen Ort von Holmes vorübergehendem Ende, an die Wasserfälle von Reichenbach, wo es im Mai 1891 zum Showdown zwischen dem Meisterdetektiv und seinem Erzfeind Professor Moriarty kam.

Doch am ersten Tag stellt man sich zu den Klängen des Züricher Flughafenorchesters erst mal einander vor. Nein, doch nicht mit richtigem Namen, der character muss es sein. Auf seinen echten Namen „Charles“ reagiert Dr. John H. Watson M.D., Late of H. M. Indian Army, in den folgenden Tagen sowieso nicht – auf „Watson!“ sofort. Alle Pilger übernehmen eine Rolle aus den insgesamt 56 Detektivgeschichten und vier Holmes-Romanen von Arthur Conan Doyle. Dummerweise hat er darin nur einen einzigen Journalisten geschaffen. Und diesen Horace Harker spielt bereits ein Kollege vom mitreisenden Kamerateam der britischen BBC.

Beim Lunch stellt sich unauffällig ein Herr in Frack und Zylinder an meinen Tisch und nimmt mich für eine – allerdings schlampig kopierte – Eine-Million-Pfund-Note in seine Dienste: Professor Moriarty hat einen neuen Agenten. Der anscheinend doch nicht so ahnungslose Watson, im Zivilberuf übrigens nicht etwa Arzt, sondern beim Londoner Auktionshaus Christie’s beschäftigt, hat mir inzwischen einen character besorgt: Als Deutscher bekomme ich eine der wenigen deutschen - und natürlich bösen - Rollen aus dem canon, wie die Eingeweihten die gesammelten Holmes-Werke nennen: Ich bin ab sofort von Herder, blinder Mechaniker und Moriartys – Waffenlieferant. Die Zukunft des Professors steht wahrlich unter keinem guten Stern.

Erste Etappe der Pilgerreise ist Bern. Da war Holmes zwar nie. Aber die Schweiz ist stolz auf ihr detektivisches Erbe, und weil es lediglich auf einer gerade mal knapp dreiseitigen, nicht allzu detaillierten Würdigung in der Kurzgeschichte „The Final Problem“ aufbaut, bleibt herrlich Spielraum für Abweichungen. Also trifft Sherlock Holmes – Albert Einstein. Denn 2005 ist Einstein-Jahr, und in der mit ihren mittelalterlichen Gassen ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommenen eidgenössischen Hauptstadt hat eben eine höchst sehenswerte Ausstellung eröffnet. Einstein war in Bern beim Patentamt angestellt, publizierte hier1905 seine Spezielle Relativitätstheorie – und muss sich jetzt plötzlich von Professor Moriarty vorhalten lassen, lediglich dessen Forschungsergebnisse abgekupfert zu haben. Derlei Winkelzüge machen den Sherlockianern besonders Spaß, und es wird ein leichter Fall für Holmes: Moriarty hatte einfach Einsteins Aktentasche vertauscht. Problem gelöst, die Tweed-Karawane zieht weiter.

Am Abend, beim Empfang in der Residenz des britischen Botschafters, hat man sich im altmodischen Kleiderzwang eingelebt. Seine Exzellenz Simon Featherstone, Her Majesty’s Ambassador to Switzerland, sieht in seinem modernen Smoking geradezu underdressed aus. Dafür singt er tapfer mit – Singen ist nun mal ein hohes Gut in der Sherlock-Holmes-Gesellschaft, vor allem der „Swiss Navy Song“ („We’re off to join the Swiss Navy/To lead a life that’s relaxed and free/And never go to sea“). Holmes angebliche Geliebte Irene Adler dirigiert, die Stimmung wird immer ausgelassener. Von einigen Damen aus feinsten Kreisen wird später kolportiert, sie hätten Gin Tonic für Limonade gehalten.

Von Bern geht es über Lausanne nach Lucens. Denn enger noch als mit Sherlock Holmes selbst ist die Schweiz mit seinem Schöpfer Arthur Conan Doyle (1859–1930) verbunden. Er bereiste seit den 1890er-Jahren die Alpenregion und gehörte zu den Pionieren des Skisports und der Wintersaison. Sein Sohn Adrian ließ sich später im Schloss von Lucens nieder und gründete hier 1965 das erste Sherlock-Holmes-Museum der Schweiz. Und exakt hundert Jahre ist es nach der Legende her, dass der Meisterdetektiv seine Consulting Detective Praxis in der Baker Street aufgab, aufs Land zog und sich dort fortan der Bienenzucht widmete.

Die Society gedenkt auf ihre Weise: mit einem Bienentanz. Bei rund 30 Grad im Schatten schälen sich also sechs der Damen und Herren aus ihren viktorianischen Textilien, um sich in noch wärmere schwarz-gelbe Faserpelze zu hüllen, und setzen merkwürdige Taucherbrillen auf, die zwar weniger an Bienen, dafür aber haargenau an Puck die Fliege erinnern. „Sie machen in London bei einer Tanzgruppe mit, die barocke Tänze aufführt“, sagt jemand und es klingt fast ein bisschen entschuldigend. Hummelschwarm wäre für die dann folgende Darbietung das deutlich treffendere Prädikat. Barock war es allemal.

Mittlerweile haben alle Teilnehmer der Pilgertour die Bekanntschaft mit einem gewissen Charles Augustus Milberton gemacht. Vor dem König der Erpresser ist man auch auf Reisen nicht sicher: Er schiebt seine stets ausgesucht höflich formulierten Billets unter der Hoteltür durch. Milberton stiftet fast so viel Unruhe wie der teuflische Professor Moriarty. Ich bekomme auch einen Erpresserbrief, bin aber aus dem Schneider: Als Blinder kann ich schließlich nicht lesen, was drinsteht. Zur Strafe erklärt mir Milberton am folgenden Tag in Zermatt das Matterhorn von allen Seiten. Vor 140 Jahren ist es zum ersten Mal bestiegen worden, natürlich von einem Engländer. Dieser Edward Whymper hat im Alpenstädtchen aber bis heute keine allzu gute Presse: Von seiner siebenköpfigen Mannschaft sind nur drei zurückgekehrt, die Abgestürzten waren mit einem viel zu schwachen Seil gesichert. Holmes beschnüffelt das aus dem Alpenmuseum geholte Seil zwar von allen Seiten, kann das Rätsel aber letztlich nicht lösen. Die Pilger nehmen also lieber die Zahnradbahn, Richtung Gornergrat. Auf über 3.000 Metern Höhe ist dann auch endlich mal die Kleidung angemessen.

Alle Pilger übernehmen eine Rolle aus den 56 Detektivgeschichten

Doch viel zu kurz währt die Abkühlung. Und was steht als Nächstes an? – Heiße Bäder. Schließlich ist Leukerbad so etwas wie das Baden-Baden der Schweiz, mit einmaligem Panoramablick hinauf zum Gemmi. Die normalen Badegästen haben keine Chance, wenn das britische Empire in ihr Thermalbecken einfällt, um zu – frühstücken. Auf schwimmenden Korktabletts sind liebevoll Lachsschnittchen und Käsebrote gerichtet. Holmes gibt die berühmte Pfeife beim Bademeister in Verwahrung und springt in die Fluten. Die Herren tragen epochegemäß Pyjamaähnliches, die Damen sehen aus, als wären sie im Sommerkleid baden gegangen. Und alle, alle tragen Hut. Die Kurverwaltung lässt sich nicht lumpen und spendiert Champagner aus Plastikgläsern. Wenn der mal schwappt, macht das nichts. Hauptsache, keiner plempert schwarzen Kaffee ins Wasser – das fiele auf. Plötzlich Unruhe, Hilfeschreie – the „Dark Woman“, die Schwarze Frau kämpft, wird noch an Land geschafft – und stirbt. Selbst Dr. Watson in Badehose kann nicht mehr helfen. Für den mitreisenden Meisterdetektiv ist aber auch dieser Mord wie immer kein Problem. Ein paar prüfende Blicke durch die Lupe: „Dies, Ladies und Gentlemen, ist ausnahmsweise nicht die Tat es teuflischen Professor Moriarty“, sagt Holmes, „es war eine tödlich giftige Qualle.“ Doch wo ist das Ding? – Am Beckenrand. Normale Badegäste haben die liebevoll zusammengeschnürten Plastiktüten aus dem Wasser gehievt und sich bei der Badeleitung über „den Müll“ beschwert. Holmesianer haben es nicht leicht.

Und danach wird auch noch gewandert, jetzt wieder auf original Holmes-&-Watson-Route aus „The Final Problem“. Über den Gemmi-Pass geht es „along the border of the melancholy Daubensee“ Richtung Kandersteg. Die Truppe rutscht durch den letzten Schnee. Die Sonne sticht, die Luft ist klar – und dann geht ein Felsbrocken nieder und verpasst Holmes nur knapp. Das Ende steht bevor, alle wissen es. Melancholisch wird’s in den Herzen der Sherlockianer. Und Milberton erklärt mir wieder mal die Landschaft: „Es ist so schade, von Herder, dass Sie das alles nicht sehen können.“

Endlich dann Meiringen, Ort des letzten Kampfes. Doyle ist hier im Hotel du Sauvage abgestiegen, im Buch heißt es „Englischer Hof“. Die zugehörige englische Kapelle ist seit 1991 Sherlock Holmes-Museum. Von Meiringen aus wanderten Holmes und Watson 1891 zu den Wasserfällen von Reichenbach. Wir nehmen 114 Jahre später die Standseilbahn. Der Fall rauscht, Holmes und Moriarty kämpfen. Als von Herder habe ich mittlerweile acht Agenten geworben, die Holmes zusätzlich mit meinen Air Rifles beschießen. Hinterher gibt es milden Ärger: Wir sollen unsere Pusterohrkügelchen gefälligst wieder aufsammeln, schließlich sei das hier Naturschutzgebiet.

Am Abend, nach dem Abschiedsdinner, machen sich Befürchtungen breit: Werden die Pilger den Umstieg ins Jahr 2005 und ihr normales Leben verkraften? „Es dauert jetzt wieder mindestens zwei Monate, bis er begreift, dass er nicht mehr Milberton ist“, fürchtet die Frau des Erpresserkönigs. Wenn die Zeit mal reicht: Später bekommt ihr Mann heimlich haufenweise kleine Kästchen mit Nougat zugesteckt. Die Erpresserbeute läuft ein.