: Der langsamste Schnellzug der Welt
Eine Fahrt mit dem Schweizer Glacier-Express zwischen Wallis und Graubünden muss jeder Schienenfan mal mitgemacht haben – und wer bis dahin keiner war, ist es dann. Bis in 2.000 Meter Höhe schrauben sich die Waggons, manche Orte an der Strecke sehen die Passagiere gleich mehrmals
von KARIN ZICKENDRAHT
Eigentlich ist es ja nicht zünftig, in die Schweiz, dieses Bahnland schlechthin, mit dem Reisebus zu fahren, um erst dort in den Zug zu steigen. Aber das Angebot eines Karlsruher Reiseunternehmens, nicht nur den berühmten Glacier-Express, sondern auch umliegende Orte und Ausblicke kennen zu lernen, war halbwegs günstig, und so gondeln wir erst mal im Bus eine walliserische Serpentinenstraße hinauf, um nach Saas Fee zu gelangen, der ersten Station der Reise.
Noch bis in die 1930er Jahre ein unbekanntes, abgelegenes Bergdorf, das nur mit dem Maultier zu erreichen war, wurde Saas Fee 1937 vom Schriftsteller Carl Zuckmayer „entdeckt“ und nach dem Krieg als letztes Domizil für sich und seine Familie erwählt. Heute ist der stark gewachsene und touristisch erschlossene Skiort wie Zermatt vollständig autofrei: Autos und Busse müssen draußen bleiben – an einer großzügig angelegten Ver- und Entsorgungsstation am Ortseingang mit Busbahnhof und achtstöckigem, in den Berg hineingebautem Parkhaus. Elektrokarren bringen surrend das Gepäck zu den Hotels und Ferienwohnungen. Die funktionale Betonarchitektur dieser Stationen, auch der Bahnstationen etwa in Täsch oder Zermatt, bildet einen seltsamen Kontrast zu den alten Scheunen aus vom Bergklima geschwärztem Holz, die auf Steinpfählen mit Betontellern (gegen Mäuse) mitten im Ort zwischen Hotels und Sportgeschäften stehen bleiben durften.
Rund hundert Euro kostet die 291 Kilometer lange Fahrt mit dem Glacier-Express von Zermatt nach St. Moritz. Siebeneinhalb Stunden dauert die Reise, bei der das knallrot lackierte Schweizer Präzisionsprodukt dank Zahnradantrieb auf über 2.000 Höhenmeter klettert und 291 Brücken und 91 Tunnels passiert. Sogar Kinder sollen schon vergessen haben, sich zu langweilen, und schauen gebannt durch die Panoramafenster auf die grünen Spielzeugalmen und schneebedeckten Viertausender, wenn die Matterhorn-Gotthard-Bahn, schon oberhalb der Baumgrenze, sich noch weiter aufwärts arbeitet, wo ausgeklügelte Ingenieurskunst in den vielen Kehrtunnels und steinernen Bogenbrücken sichtbar wird.
Am 18. Juli 1891 setzte sich unter Böllerschüssen und unter dem Jubel der begeisterten Zuschauer erstmals der Zug von Visp nach Zermatt in Bewegung. Statt mit dem Maultier in neun Stunden konnte die Strecke nun in zweieinhalb Stunden mit vierachsigen Wagen, getrieben von vier Dampflokomotiven HG 2/3 aus Schweizer Produktion, zurückgelegt werden. Jedes Jahr von Mai bis Oktober gab es viermal täglich in jede Richtung eine Verbindung, und zwei zusätzlich im Juli und August, denn der Tourismus, vorwiegend zunächst aus England, begann die Region zu erobern.
1927 fiel die Entscheidung, die Strecke zu elektrifizieren. Zusätzlich beschlossen die Verwaltungsräte, die Visp-Zermatt-Bahn bis Brig zu verlängern. Vision war die Schaffung eines subalpinen Netzes, namentlich der Weiterbau bis St. Moritz. 1930 fuhr der erste Zug elektrifiziert nach Zermatt, gezogen von meterspurigen Drehgestell-Lokomotiven HGe 4/4 l für gemischten Zahnrad-/Adhäsionsantrieb.
1930 war auch das Geburtsjahr des legendären Glacier-Express, der, zuerst noch mit Dampf, dann elektrisch, mit noblem Speisewagen von Zermatt nach St. Moritz fuhr. Wegen der enormen Steigungen und der kurvigen, tunnel- und brückenreichen Strecke wurde er neckisch „der langsamste Schnellzug der Welt“ genannt. 1933 waren auch die Lawinenverbauungen zwischen Brig und Zermatt fertig gestellt, so dass die Züge jetzt auch im Winter verkehren konnten. Später schlossen sich die Betreiber BVZ (Brig-Visp-Zermatt) und FO (Furka Oberalp Bahn) zur Matterhorn-Gotthard-Bahn zusammen. Bis heute ist die gesamte Strecke einspurig, freilich mit Ausweichstellen, und die Meterspurigkeit wurde fast überall im Hochgebirge außer auf den großen Linien (Gotthard, Lötschtal) beibehalten.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren die Bergdörfer der Gegend bettelarm, die Kindersterblichkeit hoch, Lungentuberkulose eine der häufigsten Todesursachen. Die Erschließung der Region durch die Bahnen und der sie auslösende und durch sie ausgelöste Fremdenverkehr brachten erst den Wohlstand, der heute so selbstverständlich erscheint.
Den Übergang auf Zahnradzuschaltung registriert der Reisende durch ein kurzes Rumpeln. Wir sind in Brig in den berühmten Zug gestiegen, immer die Rhône entlang flussaufwärts gefahren und passieren jetzt das Dörfchen Niederwald, aus dem der Hotelier Cäsar Ritz stammt. Vor tausend Jahren zogen streng katholische Oberschwaben in diese walliserischen Hochtäler, rodeten und siedelten hier.
Einmal wöchentlich wird die Strecke zu Fuß abgeschritten, beim Furkatunnel geschieht das vierzehntägig. Streckenwärter Fredy Simmen hat bereits 300 Tunneldurchquerungen hinter sich. Man geht zu zweit, Stirnlampen beleuchten den Weg durch die Schwärze. „Die Luft ist sehr feucht“, berichtet er, „die Temperatur stets bei 20 Grad Celsius. Zudem herrscht Druck, vor allem, wenn ein Zug herannaht. Die Luft riecht modrig, weil die Holzschwellen dunsten und der liegen gebliebene Dreck verfault.“
Überall ist zu beobachten, wie die Schweizer durch den Bau neuer Bahn- wie auch Straßentunnels versuchen, ihre Verkehrsverbindungen vor dem (rutschenden) Berg zu schützen. Die Baumaterialien werden zum Teil an Hubschraubern hängend zur Baustelle geflogen. Manchmal gibt es böse Überraschungen, zum Beispiel bei den Arbeiten am neuen Gotthard- und am Lötschberg-Basistunnel: Statt des erwarteten Granits kam drinnen weiches Gestein zum Vorschein – die Wände mussten verstärkt werden, die Finanzmittel auch.
Erst vor zwölf Jahren verschüttete ein Bergrutsch zwischen Saas Fee und Täsch ein (unbewohntes) Feriendorf, dazu Straße, Bahnstrecke und Fluss. Jetzt siedeln schon junge Lärchen auf dem Schuttfeld. Die Verkehrsstrecken wurden umgelegt. Auf der Furka-Bergstrecke mussten lange Zeit jeden Herbst die Fahrleitungen mühsam abmontiert werden. 1982 wurde der Abschnitt daher durch den 15,4 Kilometer langen Furka-Basistunnel zwischen Oberalp und Realp ersetzt. Die alte Strecke wird seit 12 Jahren als Museumsbahn mit alten Dampfloks betrieben, die Eisenbahnfreunde im fernen Vietnam gefunden und zurückgekauft haben.
Der Übergang in den Kanton Uri wird durch kein Rumpeln angezeigt. Von Andermatt, wo viele Busreisende erst auf den Glacier-Express umsteigen, geht es mit Zahnradbetrieb 600 Meter rauf zum Oberalppass, dem höchsten Punkt der Strecke mit 2033 Metern über dem Meeresspiegel. Die größte Steigung beträgt 12,5 Prozent. Viele Kilometer fahren wir durch eine Art Canyon im Gebiet Flims, wo ein Bergsturz vor 20.000 Jahren und die folgende Erosion ein riesiges zerklüftetes Gebiet mit schroffen, nackten Felswänden geformt haben.
Wir befinden uns inzwischen im Kanton Graubünden, in den Albula-Alpen, dem Ursprungsgebiet des Rheins: Vorderrhein, Lumbrein (ohne h!), Valser-, Hinter- und Averserrhein vereinigen sich zusammen mit weiteren Flüsschen zunächst zum Alpenrhein.
Wohl der Höhepunkt der Reise ist die übergangslose Einfahrt vom Land-Wasser-Viadukt direkt in den Tunnelschlund im senkrechten Bergmassiv: Dahin drehen sich wie in einer einstudierten Bewegung alle Zuginsassenköpfe und Kameraobjektive. Oder schön auch, wenn sich der Zug durch Kehrtunnels im Berg windet und wir zwischendurch zweimal demselben Dorf, Bergûn, zuwinken können, nur auf unterschiedlichem Niveau. Auf einer nachfolgenden Kapriolenstrecke mit lauter Kehrtunnels werden sechs Kilometer Luftlinie auf zwölf Kilometer ausgedehnt.
Man muss kein Streckenwärter sein, um die Bahnlinie auch zu Fuß erleben zu können. Ob in sechseinhalb Stunden von Oberwald und Niederwald (18 Kilometer) oder in steigungsreichen Tagesetappen vom Gornergrat nach Disentis mit (im doppelten Wortsinn) Höhepunkt Oberalppass: Die ausgebauten Wanderwege entlang der Bahnstrecke durch kühlen Waldschatten, fette Wiesen und hochgelegene Almen bescheren Blicke auf unvergessliche Bergkulissen.
In St. Moritz – man betone Moritz auf der zweiten Silbe – verlassen wir den Glacier-Express. Das heute „bekannteste Dorf der Welt“ wurde schon im 16. Jahrhundert von Paracelsus wegen seiner Heilquellen als Ort der Genesung empfohlen. Heute treibt man hier hochpreisigen Wintersport und spielt Polo; englische Feriengäste brachten das Treibballspiel im 19. Jahrhundert mit. Verkehrssprachen sind neben Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch auch Englisch und Japanisch. Im Gegensatz zum abgehobenen St. Moritz ist Pontresina „auf dem Boden geblieben“, sagt unser Reiseleiter, weshalb wir auch dort übernachten. Einst sollen hier Sarazenen gesiedelt haben, die dem Ort auch seinen Namen gaben.
Wir erwachen am nächsten Morgen bei Schneegestöber. In den Hochalpen ist bekanntlich fast jedes Wetter zu jeder Jahreszeit möglich. Vor einigen Jahren mussten im Hochsommer Kühe mit Hubschraubern in großen Netzen von den Almen geflogen werden, weil sie bis zum Bauch im Schnee standen.
Auf dem Rückweg Richtung Heimat sehen wir die Reste kleiner Burgen, in denen einst Geldeinnehmer saßen und die Reisenden an unwegsamen Durchgängen schröpften. Wir steigen an einer steinernen Eisenbahnbrücke aus, deren 89 Meter hohe Bögen sich über den Fluss Albula spannen, und warten für ein Foto den nächsten Zug ab. Als Kontrast dazu verläuft direkt dahinter eine moderne Straßenbrücke aus Beton.
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