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All die bösen Kinder

Am Hamburger Thalia-Theater ist der „Struwwelpeter“ als Ode an das rebellische Kind zu erleben. Und das macht als Stream schon Spaß

Die Ausgestoßenen des Lockdown-Lebens haben sich im Thalia-Theater eingenistet: Szene aus „Shockheaded Peter“ Foto: Fabian Hammerl/Thalia Theater

Von Jens Fischer

Premiere am Thalia-Theater und niemand geht rein. Wie auf einem Golfplatz im Winter sei die Corona-Atmosphäre am Alstertor, meint Peter Jordan. Einsam steht er, zusammen mit Leonhard Koppelmann, dem Regisseur des Abends, vor dem Haupteingang und nimmt die online zugeschalteten Zuschauer mit durchs Foyer, über die Bühne ins besucherleere Parkett. Dort haben sich die Ausgestoßenen des Lockdown-Lebens eingenistet, um das Theater als Schutzraum und Ort der Selbstverständigung nutzen.

Hochbettgestelle lehnen am Eisernen Vorhang, den Zoten in Wort und Bild zieren. Das ärmliche Szenario lässt Nacht­asyl für Wohnungslose, Kinderheim von einst oder besetztes Haus von heute assoziieren. White-Trash-Kids turnen darin in fein auf schäbig geschneiderten Kostümen herum: Thirdhand-Style aus dem Container, ergänzt um Tüdel und zottelige Perücken aus dem Theaterfundus. Zwischen infantiler Naivität und jugendlicher Rotzigkeit balancieren derart designte Darsteller*innen. Ganz fiese Grinsemimik schmückt die Antlitze, Beißerchen sind wehrhaft gefletscht. Verwahrlosung wird mit makaberer Coolness recht einnehmend behauptet.

Schließlich gilt es mit „Shockheaded Peter“ die dunkle und anarchische Seele einer „Junk-Oper“ von Julian Crouch und Phelim McDermott zu entdecken. Während die Bühnenmusiker das bittersüß balladesk Rumpelige der elementar dazugehörenden Tiger-Lillies-Songs poplässig wegschmeicheln. Das Typenarsenal bleibt abgründig garstig oder einfach böse wie die Vorbilder aus dem „Struwwelpeter“ und feiert ein nervtötend lobenswertes Beispiel menschlichen Fehlverhaltens: kindlichen Trotz.

Die lakonischen Verse und krassen Bilder der 1845 erschienenen Bildergeschichte von Psychiater Heinrich Hoffmann sind inzwischen wegen ihrer Grausamkeit in Verruf geraten. Dabei war der Autor durchaus ein liberaler Kopf. Zur Sprache bringen wollte er präpubertäres Gefühlsleben und elementare Dramen der Erziehung – dafür brach er mit dem romantischen Klischee der naturguten Bälger und zeigte sie als unruhige, aggressive, nervös bockige Wesen. Hoffmann spielt mit der Faszination des Bösen, verweist auf unterdrückte Wünsche, Aggressionen und Verlassenheitsgefühle. So gelesen ist der „Struwwelpeter“ ein Plädoyer für Toleranz und eine Ode an das rebellische Kind.

Die Thalia-Inszenierung bringt diese Stoßrichtung auf den Punkt. Nicht schwarze, also Angst machende Brutalpädagogik regiert dort und nordet auf Spießerregeln ein, sondern erinnert daran, wie sich die Kinder gegen Verordnungsversuche gewehrt, ihnen widerstanden haben. Dafür wurden sie von den Eltern verstoßen oder diese zeitigten als Folge des renitenten Verhaltens gleich das Zeitliche.

„Keiner hat hier Eltern“, ruft Daumenlutscher Konrad (Cathérine Seifert) in die Runde. Und es kommt zur einzigen Pause des Schweigens während der Aufführung. Ja, alle sind Waisen. Das ist ihre Chance und ihr Problem. Klar, Eltern nerven, wollen sie doch immer sagen, was zu tun sei. Und Familie ist die Keimzelle munter wuchernder Phobien und Störungen. In Flashbacks erinnert sich jede Bühnenfigur an einstige Demütigungen und Abrichtungen. So macht der Struwwelpeter seine Mutter nach, befiehlt Zähneputzen und droht mit Karius und Baktus. Gleichzeitig erfährt der Sohn, dass Papa nie da, weil immer im Büro sei und sich dort zu Videos einen runterhole.

Können solche Eltern weg? Sind sie weg, das zeigen Jordan/Koppelmann, dann fehlt mit der Abwesenheit auch der prekärsten Familiennester die Orientierung und eine Hierarchien lehrende Instanz. Das erledigen die Outsider nun selbst anhand des „Struwwelpeter“-Buches. Sagt der zappelige Stotterer (Merlin Sandmeyer), Tiere quälen mache Spaß, drängelt sich Zündlerin Pauline (Victoria Trauttmansdorff) vor die Linse und sagt: „Darf man eigentlich nicht.“

Die Inszenierung nimmt die Kinder in Schutz und gestattet ihnen die Flucht

Das zänkische Gegeneinander ist das hilflose Miteinander dieser verletzten Helden. Sie wollen nicht gehorchen, sie rebellieren – und bezahlen dafür mit dem Leben. In der Vorlage. Nicht in Hamburg. Jordan/Koppelmann nehmen die Kinder in Schutz und gestatten ihnen die Flucht. Als sie erkennen, dass der Struwwelpeter-Typ (Julian Greis) nicht ihr Chef oder sogar Gott ist, sondern nur ein verlauster Bengel mit langen Fingernägeln, will die Loser-Bande weg von der Thalia-Vorbühne, zurück ins Leben – und entdeckt, wie es gehen könnte, mal utopisch herrschaftsfrei zusammen zu leben. Ein überzeugendes Andeutungskonzept.

Die Live-Performance kommt technisch beeindruckend ins Heimkino. Dass immer wieder direkt in die Kameras und mit ihnen gespielt wird, sorgt geradezu für Theater-Live-Intensität und macht viele darstellerische Nuancen überlebensgroß. Hinreißend diabolisch etwa, als die hexenhafte Cornelia Schirmer mit den Reizen einer Bösewichtin spielt und erzählt, wie sie sich aus Frust über das Verhalten der Eltern ihres Bruders entledigte. Dass alle Schauspielenden nur in Bühnenbereichen agieren dürfen, die mit Plexiglasscheiben abgetrennt sind, stört das überdrehte Spiel nicht. Sprech- und Gesangspassagen fließen zudem dermaßen elegant ineinander, dass aus dem Lieder- ein zupackender Schauspielabend wird.

Schade nur, dass die Inszenierung so eindimensional schrill ist und das irre Tempo nicht variiert wird, egal ob die fröhlichen Albtraumgeschöpfe nun Farce, Moritat, Groteske, absurdes Theater, Kindertragödie oder Gruselhorrorhumoreske spielen. Trotzdem: Die Show dürfte analog das Thalia rocken wie derzeit nur den winzigen Heimkinobildschirm.

„Shockheaded Peter“ wird wieder gestreamt am Mittwoch, 24. 2., ab 20 Uhr, auf www.thalia-theater.de

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