Als sie sich nur noch an Wörtern festhalten konnte

In Hildegard E. Kellers Roman „Was wir scheinen“ kann man die Philosophin Hannah Arendt beim Zweifeln und Begreifen begleiten. Und beim Rauchen und Schwimmengehen

Durch finsterste Momente: Hannah Arendt, 1970 Foto: Ullstein

Von Jens Uthoff

Als Hannah ­Arendt im Jahr 1962 in New York an der Schreibmaschine sitzt und mit den Formulierungen kämpft, wendet sie mehrere Begriffe hin und her: Pflicht, Pflichtbewusstsein, (Kadaver-)Gehorsam, Normalität, der Mensch als „animal laborans“, „arbeitendes Tier“. Sie schreibt an ihrem Text über den Eichmann-Prozess in Jerusalem ein Jahr zuvor, versucht sich den Motiven für dessen Handeln zu nähern. Mit ihrem Ehemann Heinrich Blücher (der sie „Schnupper“ nennt) diskutiert sie vor allem über den geplanten Untertitel des Buches: „A Report on the Banality of Evil“.

„Wie krieg ich das denn nur in deinen Kopf rein, Schnupper! Banalität des Bösen, das ist einfach unnötig, unsachlich, irgendwie aufreizend. Früher hast du doch von der Radikalität des Bösen gesprochen!“, sagt Blücher. Arendt entgegnet: „Mit so einem farblosen Eichmann hat doch die ganze Welt nicht gerechnet! Und nun muss ich eben der Frage auf den Grund gehen: Wie kommt ein Mensch dazu, sich in einen Massenmord verwickeln zu lassen und pflichtgetreu nur seine grauenhafte Arbeit zu verrichten, ohne sich auch nur eine Sekunde lang auszumalen, was er da tut?“

Es sind nicht die historischen Persönlichkeiten, die hier sprechen, es sind Romanfiguren. Die Schweizer Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Hildegard E. Keller, langjährige Jurorin des Bachmannpreises, widmet sich in ihrem ersten größeren Roman „Was wir scheinen“ dem Leben Hannah ­Arendts. Sie will die Privatperson möglichst genau zeichnen und die Kontroversen, die ihr Werk ausgelöst hat, abbilden.

Hildegard E. Keller: „Was wir scheinen“. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2021, 576 Seiten, 24 Euro

Im Zentrum stehen Arendts Reportagen vom Eichmann-Prozess 1961 für den New Yorker und das daraus entstandene Buch. Arendt schrieb, sie erlebe den Logistiker des Massenmords als „gewöhnlich und durchschnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich“, sie kritisierte die Prozessführung; am Umstrittensten waren ihre Aussagen über die Rolle der „Judenräte“ und jüdischen Funktionäre, die bei der Zerstörung des eigenen Volkes mitgewirkt hätten. Befreundete Intellektuelle wie Gershom Scholem, Hans Jonas und Kurt Blumenfeld gingen auf Distanz. Der britische Holocaustforscher David Cesarani arbeitete heraus, dass der Begriff „banal“ für einen fanatischen Vollstrecker, der seine „Managerfähigkeiten“ zur Vernichtung nutzte, nicht angebracht sei. Die Debatte währte lang. Sie einmal mehr zu führen, ist aber nicht Kellers Thema. Eher zeigt die Autorin, wie Arendt sich später dazu verhalten hat. So wird einer Diskussion mit Studierenden in Köln 1964 viel Platz eingeräumt, in dem die Protagonistin sagt, man habe sie „gründlich missverstanden“.

Anders als etwa in Margarethe von Trottas Film „Hannah Arendt“ sind das Eichmann-Buch und die Folgen aber nicht das einzige Thema. „Was wir scheinen“ ist als biografischer Rückblick angelegt, bei einer Sommerreise ins Tessin 1975 resümiert die Philosophin die wichtigsten Lebensabschnitte. Ihr intellektuelles Leben ist dabei immer in ihr Alltagsleben eingewoben, man ist dabei, wenn Arendt sich Zigarette um Zigarette anzündet, wenn sie in Tessin in der Maggia schwimmen geht, wenn sie mit Blücher („Stups“) am Esstisch sitzt.

Die heftigen Debatten über den Zionismus, die sie mit Weggefährten führte, greift Keller ebenfalls auf, angefangen mit ihrem Artikel „Zionism Reconsidered“ (1945), in dem sie sich gegen die Gründung Israels als Nationalstaat, gegen die Nationenbildung auf ethnischer Grundlage aussprach. Auch in ihrer Kritik am Zionismus fühlte sich Arendt oft missverstanden, dies zeichnet Keller unter anderem in Gesprächen mit Kurt Blumenfeld nach. Da lässt die Autorin ihre Protagonistin den unmissverständlichen Satz sagen: „Wer vergisst, dass es diesen Staat gibt, weil man für seine Bewohner Todesfabriken gebaut hat, versteht irgendwann die eigene Realität nicht mehr.“

Ihr intellektuelles Leben ist dabei immer in ihr Alltagsleben eingewoben

Dies alles sind bekannte Sujets. Was sich aber wie ein roter Faden durch dieses Buch zieht und weniger bekannt ist, ist Arendts Faible für Lyrik, die wie eine Überlebenshilfe für sie ist (sie notiert Gedichte in ihrem „Denktagebuch“). „Verse haben uns durch die finstersten Momente getragen, als wir uns alle nur noch an Wörtern festhalten konnten. An deutschen Wörtern, so heimatlos geworden wie wir. An den Wörtern unserer Dichter und derer, die so dachten und fühlten wie wir“, reflektiert die Protagonistin. Kellers Romantitel ist – wie die Kapitelüberschriften – einem Gedicht Arendts entnommen: „Was wir sind und scheinen / ach wen geht es an / Was wir tun und meinen / niemand stoß sich dran“. Ein Vierzeiler, der ihren Humor wie auch all die Widersprüche und Kontroversen ihres Lebens andeutet. Eine weitere Allegorie kommt in Form eines Märchens daher: Hannah Arendts bislang im Deutschen nie komplett erschienene Fabel „Die weisen Tiere“ (1938) wird hier erstmals veröffentlicht.

Über so manche Länge, in denen das Alltägliche etwas zu sehr ausgebreitet wird, sieht man gern hinweg. Denn die große Stärke dieses zudem unterhaltsam geschriebenen Romans ist es, dass man Hannah Arendt beim Zweifeln, beim Begreifen (in Begriffen), beim Sel­ber­den­ken in (inneren) Dialogen eng begleiten darf. So gelingt es der Autorin gut, den Leser und die Leserin mitten in dieses Denken hineinzuführen.