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meinungsstark

„Zweiter Historikerstreit“

„Lob der Verunsicherung“, taz vom 17. 3. 21

Das „schlagloch“ von Charlotte Wiedemann löst höchst ambivalente Gedanken und Gefühle aus. Man könnte den Hinweisen auf Genozide noch eine Liste weiterer hinzufügen und damit die Frage nach der Singularität noch vertiefen. Im Grunde ist die Shoah so singulär wie die Ausrottung der Indigenen oder der Völkermord an den Armeniern, das Abschlachten der Nama und Herero so singulär wie der Einsatz von Agent Orange in Vietnam: Sie alle haben ihre einzigartigen Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen für viele Millionen Menschen – und für ihre Nachkommen. Dennoch räume auch ich der Shoah angesichts der in vielfacher Hinsicht völlig irrational-wahnhaften Begründungen für sie – nicht nur durch die Faschisten, sondern auch durch „WissenschaftlerInnen“ – eine Sonderstellung in der Menschheitsgeschichte ein. So weit, so treffend argumentiert von der Autorin.

Und doch bleibt Unbehagen. Man kann ihren Text auch als Historisierung von Völkermorden lesen. Wirklich überzeugend wären ihre Reflexionen erst dann, wenn der neoliberale als neokolonialistisch-rassistischer Feldzug des Teils der Welt, in dem wir leben, gegen ihren Rest, vor allem südlich von uns, als nahtlose Fortsetzung jener Mordexzesse und Raubzüge verstanden werden würde. Was wir brauchen, ist weniger eine Frage nach singulärer Vergangenheit, sondern vielmehr die in unseren Alltag eindringende Gewissheit, dass unser „gutes Leben“ monströser Auswuchs der früheren und auch der ganz aktuellen Völkermorde ist, nicht nur im Nahen Osten und in Afrika, sondern auch in Bangladesch, in Indonesien, in Brasilien.

Keine Banane und kein T-Shirt, kein Smartphone und kein Elektroauto hierzulande ohne Sklaven- und Kinderarbeit, ohne exzessive Ausbeutung und Unterdrückung, also ohne Vernichtung und Tod dort unten, und ohne Millionen flüchtender Menschen, die in Wüsten sterben oder in Meeren ertrinken. Nicht der Rückblick unserer Enkel sollte später einmal feststellen, dass Anfang des 21. Jahrhunderts noch immer eine weiße Minderheit in Europa, Nordamerika und Australien/Neuseeland militärisch, also mit immer wirksameren Formen der Gewalt, den eigenen Wohlstand kolonialistisch-rassistisch sicherte. Diese Gewissheit brauchen wir jetzt, nicht nur, um den größten Teil der Menschen auf dem Globus endlich in eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit zu entlassen, sondern um uns selbst aus einer – auch unsere Körper und Seelen und den Planeten, auf dem wir leben – zerstörenden Lebensweise zu befreien. Ein Blick zurück, der die Gegenwart ausspart, riskiert, ihr gegenüber trübe zu werden.

Günter Rexilius, Mönchengladbach

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