Ich kann nicht schmelzen

Wenn ein Open-Air-Festival, das Rock und Elektro verbinden will, sich anfühlt wie ein beschaulicher Tag auf dem Kollwitzplatz: Ein Ausflug zum Melt!-Festival in Gräfenhainichen bei Dessau

Früher lagen Festivalbesucher im Schlamm und hatten entgrenzten Sex, heute trinken sie Saft und essen Dattelhähnchen

VON DAVID DENK

Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht: Alten Damen Handtaschen zu entreißen gehört dazu, aber auch gegen unter Strom stehende Zäune zu pinkeln – schon im eigenen Interesse keine guten Ideen. Da redet keiner groß drüber, manche Erfahrungen muss man einfach selber machen. Dieser Text handelt von einer solchen Erfahrung. Oder waren Sie etwa schon mal für nur einen Tag auf einem mehrtägigen Open-Air-Festival? Sehen Sie!

Vor dem vergangenen Freitag hätte ich guten Gewissens Festivalromantik beschworen: Büchsenbier, Sonnenbrand, halbgare Fleischbrocken vom Billiggrill, ungewaschene Füße und Bekanntschaften mit seltsamen Zeltnachbarn. Aufgeschrieben klingt dieses Westentaschen-Woodstock genauso unappetitlich, wie es in Wirklichkeit ist. Natürlich ist es auch schön, man trifft Freunde, die man womöglich schon länger nicht mehr gesehen hat. Wenn’s einem gefallen hat und manchmal nicht nur dann, fährt man immer wieder hin. Rituale haben ja eine ungemein beruhigende Wirkung.

Ich war also für nur einen Tag auf dem 8. Melt!-Festival in Gräfenhainichen bei Dessau, genauer in „Ferropolis – The City of Steel“, inmitten der surreal-monströsen Kulisse von fünf Braunkohlebaggern im ehemaligen Tagebau Golpa-Nord. „Sie erinnern an eine untergegangene Bergbau- und Industrieepoche, an 150 Jahre Braunkohleförderung in Mitteldeutschland. Zugleich steht die ‚Stadt aus Eisen‘ aber auch für einen Neubeginn im Umgang mit Natur und Landschaft“, heißt es auf der Ferropolis-Homepage.

Der Name „Melt!“ steht für die Verbindung von Rock und Elektro in einem einzigen Line-up, und das Ausrufezeichen darin steht für eine Aufforderung, der ich nicht nachgekommen bin. Ich bin nicht geschmolzen, weil ich am nächsten Morgen im eigenen Bett aufgewacht bin und nicht im kochend heißen Igluzelt. Und mit den anderen Festivalbesuchern verschmolzen bin ich auch nur sehr begrenzt, weil ich kein Zelt dabei hatte, vor dem ich mit einem lauwarmen Bier in der Hand hätte dösen können. Selbst beim kalten Bier von dieser total trendigen Bremer Brauerei, die das Festivalgelände fest im Griff hatte, habe ich mich zurückgehalten. Ich musste ja schließlich noch fahren, und zwar ein geliehenes Auto mit beigefarbenen Lederpolstern und Fußmatten. Wie gesagt, ich habe viel falsch gemacht.

Und doch, so viel Ambivalenz muss sein, habe ich es genossen, so viele Bands wie noch bei keinem Festival zuvor gesehen zu haben. Und das Auto ist auch noch vorzeigbar. Normalerweise verschleiere ich nach Festivals reflexhaft, dass ich mit den seltsamen Zeltnachbarn auf dem Campingplatz rumgehangen habe und die Musik dazu aus dem Ghettoblaster kam.

Das Resultat der fehlenden Rückzugsmöglichkeit: The Dalles (bitte wer?), The Cribs (die Vorband der Saison), der Ein-Song-Auftritt von Maxïmo Park vor vielleicht 500 Zuschauern (die Band musste wegen eines TV-Auftritts ganz schnell zurück nach London), Phoenix (lauter kleine Franzosen mit halb langen Haaren und sehr guter Show), The Robocop Kraus (mein Gott, sind die abgegangen!), ganz wenig Tocotronic, auch nicht viel mehr Klee, weil Sängerin Suzie Kerstgens so unerträglich esoterisch rumgeschwafelt hat, Bloc Party (Rage Against The Machine für Zartbesaitete), Wir sind Helden (solide Show der Konsensband beider Besuchergruppen) und zu guter Letzt Roisin Murphy, ehemals Moloko. Eine doch ganz beachtliche Bilanz, die allerdings zu Verschleißerscheinungen führte. Spätestens beim Warten auf Murphy, die sich, ganz Diva, mitten in der Nacht um eine Stunde verspätete, alles auf die Technik schob und es dann noch schaffte, in 50 Minuten Konzert einen Kostümwechsel einzubauen, schmerzten die Füße vom stundenlangen Stehen auf dem Asphaltboden.

Mit dieser Wehleidigkeit bin ich offenbar keine Ausnahme, denn das ganze Gelände bestand im Grunde nur aus von den zahlreichen Sponsoren freundlicherweise bereitgestellten Chill-out-Lounges und Fressbuden. Früher, so steht es zumindest in den Geschichtsbüchern, sind junge Menschen auf Musikfestivals gefahren, um aus Konventionen auszubrechen, Drogen zu nehmen, wilden Sex unter freiem Himmel zu haben und sich dabei im Schlamm zu suhlen. Heute, legt zumindest das Imbissangebot nahe, trinken Festivalbesucher frisch gepresste Säfte oder Latte Macchiato und essen Dattelhähnchen mit Mangosauce oder Bio-Lammwürstchen mit Rosmarin – wie zu Hause im Prenzlauer Berg.

Je mehr Zeit ich auf dem Festivalgelände verbrachte, desto heimischer und zugleich schäbiger fühlte ich mich. Sogar mal ganz dringend aufs Klo zu müssen war in der „Stadt aus Eisen“ kein Problem – selbst für Frauen nicht. Die Toilettenkabinen in der Baracke (keine Dixie-Klos!) waren auch nicht dreckiger als die so mancher Kneipe in Berlin. Und in den Seifenspendern, ergab ein Test, war sogar welche drin. Auch dass Duschen 1,50 Euro kostete, hat die meisten Besucher wohl nur noch aus Nostalgie gestört. Dann kann man wenigstens erwarten, dass die sauber sind! Den Veranstaltern und Standbetreibern kann man all dies nicht vorwerfen, sie reagieren nur auf die gestiegenen Erwartungen der zahlenden Gäste. Auch in diesem Jahr war das „Melt!“ trotzdem wieder nicht ausverkauft. Bleiben die Leute mittlerweile etwa lieber zu Hause und gucken mit Freunden die Woodstock-DVD? Wäre nur konsequent.

Vielleicht ist es also nur noch eine Frage der Zeit, bis ich es als das Normalste von der Welt finden werde, in beigen Ledersitzpolstern für einen Tag auf ein Festival zu fahren und im Morgengrauen mit 180 zurück, weil die Seidenbettwäsche wartet. Hoffentlich nicht.