berliner szenen: Waschbär gestresst im Baum
Als ich aus der Tür trete, sitzt ein Waschbär im Baum. An der Straßenecke hat sich schon eine Traube von Schaulustigen gebildet. Den Kopf im Nacken starren sie nach oben. In gut zehn Meter Höhe sitzt das Tier, viel zu schwer wirkt es auf dem dünnen Ast. Oder ist das nur das dicke Winterfell? Doch bei jedem zaghaften Schritt, den es sich vor oder zurück wagt, erzittert die ganze Krone. Autogehupe auf der anderen Straßenseite. Einer der Schaulustigen steht als Hans Guck-in-Luft mitten auf der Straße. Kleines Geplänkel: „Idiot!“ – „Selber!“ Aber ein Fingerzeig auf den Waschbären versöhnt alle schnell wieder. Kaum aus dem Winterschlaf erwacht, wird man schon zur Sensation.
Ich drehe mich zu dem Typen neben mir um: „Sitzt der schon lange da oben?“ – „Ich weiß nicht. Aber schon ’ne ganze Weile kann er sich nicht entscheiden, ob er hoch- oder runterwill.“ – „Hat schon jemand die Feuerwehr gerufen?“, frage ich und finde die Frage sofort bescheuert. Nur in Kinderbüchern werden Tiere, die keine Haustiere sind und selbst klettern können, von der Feuerwehr aus Bäumen gerettet. Doch ich scheine mit dieser kindlichen Vorstellung nicht allein zu sein: „Feuerwehr ist schon gerufen“, versichert er mir.
Mittlerweile versucht jemand von einem Balkon im 3. Stock dem Waschbären mit einer Holzplanke eine Brücke zu bauen. Die Piratennummer scheint aber nicht so sein Fall zu sein. Er weicht ein Stück zurück und verharrt. „Ich hab gerade mit dem Nabu telefoniert“, wendet sich eine junge Frau an die Umstehenden. „Der Nabu sagt, die Feuerwehr kommt eh nicht. Das Tier braucht Ruhe, dann kommt es von selbst wieder runter.“ Doch während sich einige endlich losreißen können, hat sich auf dem gegenüberliegenden Gehsteig schon eine neue Traube mit gezückten Handykameras gebildet.
Anna Lerch
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