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Die großeHoffnung

Mitten im revolutionären März 1848 wird der polnische Freiheitskämpfer Ludwik Mierosławski von deutschen und polnischen Aufständischen aus Moabit befreit. Es ist ein Höhepunkt des europäischen Völkerfrühlings. Doch er dauert nicht lange

Revolutionärer Geist: Jubelnde Begeisterung am 20. März 1848 in Berlin über den freigelassenen Freiheits­helden Ludwik Mierosławski. Ein Holzstich aus der „Illustrierten Chronik“ Foto: akg-images

Von Uwe Rada

Die Barrikadenkämpfe rund um das Berliner Schloss sind schon zwei Tage her. 270 Menschen sind erschossen oder von Bajonetten getötet worden, doch die Euphorie kennt an diesem 20. März 1848 keine Grenzen. Vor dem noch gar nicht offiziell eingeweihten Gefängnis in Moabit warten Tausende auf die Freilassung des prominentesten Gefangenen.

Ludwik Mie­ro­sławski, damals 34 Jahre alt, war ein Jahr zuvor zum Tod durch das Fallbeil verurteilt worden, und nun, da sich die Tore des Gefängnisses öffnen, ist er ein freier Mann. Als er die Kutsche besteigt, die ihn in einem Triumphzug durch das revolutionäre Berlin bis zum königlichen Schloss bringen soll, kennt der Jubel keine Grenzen. Es hätte der Beginn einer europäischen Heldengeschichte sein können.

Auf einem Holzstich ist die Szene zu sehen. Mierosławski hält eine schwarz-rot-goldene Fahne in der Hand, die Farben der deutschen Freiheits- und Demokratiebewegung. Auch die weiß-rote polnische Fahne wird hochgehalten. Für die Berlinerinnen und Berliner ist das kein ungewöhnlicher Anblick. Seit dem gescheiterten Novemberaufstand von 1830 und 1831 gegen die russische Zarenherrschaft gelten die polnischen Aufständischen in Europa als Helden. Traurige und geschlagene Helden zunächst, wie sie Dietrich Monten in seinem Gemälde „Finis Poloniae“ 1831 (Seite 45) dargestellt hat. Doch noch ist Polen nicht verloren. Der niedergeschlagene Aufstand tat der sprichwörtlichen Polenbegeisterung in Deutschland keinen Abbruch, eher hat er sie entfacht. Und nun der Höhepunkt. Im März 1848 soll die Revolution nicht nur Deutschland vom Absolutismus befreien, sondern auch die unterdrückten Völker Europas. Dem Zug der Kutsche vom Moabiter Gefängnis zum Stadtschloss folgen nach Zeitungsangaben unglaubliche 100.000 Menschen.

Ludwig Mierosławski, Sohn des emigrierten polnischen Offiziers Adam-Gaspard Mierosławskiund der Französin Camille Notté de Vaupleux, war festgenommen worden, weil er 1846 in Posen einen Aufstand gegen Preußen angezettelt hatte. Er war einer von 254 Polen, denen ab dem 2. August 1847 in Berlin der Prozess gemacht wurde. Die Anklage lautete auf Hochverrat. In Berlin sollte er als „Polenprozess“ in die Geschichte eingehen, in Polen wird er proces berliński genannt, Berliner Prozess.

Schon damals war Mie­ro­sław­ski eine charismatische Gestalt. Vor allem die Berlinerinnen umschwärmten ihn. „Neun Zehntel unserer heiratsfähigen Damen würden Herrn Mierosławski heiraten“, schrieb der Braunschweiger Leuchtturm im August 1847 über den berühmten Moabiter Häftling. Das Interesse am Prozess war riesig, die preußischen Behörden, die die Symbolik des Verfahrens offenbar unterschätzt hatten, hatten alle Mühe, den Ansturm auf die 500 Zuschauerplätze Plätze in geordnete Bahnen zu lenken. Selbst Polizei und Armee mussten eingesetzt werden. Es war nichts Geringeres als der Beginn einer europäischen Öffentlichkeit, dem die Beobachter damals bewohnten. Die demokratischen „Vaterlandsblätter“ schrieben: „Die Augen von ganz Europa sind auf den Ausgang dieses Riesenprozesses gerichtet.“

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