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Toter Mann

Millionen Küken werden jährlich in Deutschland getötet. Ähnlich ist es in der Milcherzeugung. Bioerzeuger entwickeln Alternativen

Es ist problematisch, die Aufzucht der männlichen Brudertiere allein in die Verantwortung der Pro­du­zen­t*in­nen zu legen Foto: imago

Von Cordula Rode

Flauschige Eintagsküken, die zu Hunderten auf einem Fließband dem Tod entgegenrollen – kaum ein anderes Thema aus dem Bereich Tierschutz hat in den letzten Jahren eine ähnliche Medienpräsenz entwickelt wie das massenhafte Töten des unerwünschten männlichen Nachwuchses in der Legehennenzucht. Die Aufzucht der Hähne rentiert sich nicht, da die mit Sicht auf die Eierproduktion gezüchteten Rassen nur mit viel Aufwand gemästet werden können und am Ende trotzdem weniger auf die Waage bringen als die von vornherein für die Fleischgewinnung gezüchteten Hühnerrassen.

Während der Gesetzgeber sich lange schwertat mit der Entscheidung, ob dieses scharenweise Töten dem Tierschutzgesetz widerspricht oder nicht und das Bundeslandwirtschaftsministerium erst im Januar dieses Jahres ein Gesetz zum Ausstieg aus dem Kükentöten vorgelegt hat, das ab Ende 2021 gelten wird, haben die Bioverbände die Problematik bereits vor einigen Jahren erkannt und nach Lösungen gesucht, die Tierschutz und wirtschaftliche Interessen der Landwirte gleichermaßen berücksichtigen.

2012 wurde von einigen Bio­landwirten und -großhändlern die „Bruderhahn Initiative Deutschland“ (BID) gegründet (2019 umbenannt in „Brudertier“ Initiative). Ihr Ziel: Durch einen Mehrpreis auf die verkauften Eier der Legehennen soll die Aufzucht der „Bruderhähne“ finanziert werden. Langfristig wird die Lösung des Problems aber in der Züchtung von Zweinutzungsrassen gesehen – Hühnerrassen, die sowohl für die Eier- als auch für die Fleischproduktion geeignet sind. Dabei arbeitet die Initiative eng mit der Ökologischen Tierzucht gGmbH (ÖTZ) zusammen, die 2015 von den Bioverbänden Demeter und Bioland ins Leben gerufen wurde.

Naturland, der internationale Verband für ökologischen Landbau, dem in Deutschland rund 4.200 Betriebe angehören, verfolgt dieselben Ziele, hat aber weitergehende Aspekte im Blick. „Es ist problematisch, die Aufzucht der männlichen Brudertiere allein in die Verantwortung der Pro­du­zen­t*in­nen zu legen“, erläutert Thomas Neumaier von der Naturland-Fachberatung. „Das stellt die auf die Eierproduktion ausgerichteten Land­wir­t*in­nen oft vor große Probleme, da sie nicht auf die Mast ausgerichtet sind.“ Der Verband, der bereits Ende 2021 sein Ziel erreichen wird, dass auf den Höfen der Mitglieder für jede Legehenne auch ein männliches Küken aufgezogen wird, setzt auf Partnerschaft: „Wer nicht in die Mast einsteigen kann oder will, kann die Aufzucht der Bruderhähne an einen darauf spezialisierten Betrieb abgeben.“ Auf lange Frist sieht auch Naturland in der Züchtung spezieller Zweinutzungsrassen die sinnvollste Perspektive und ist an einem entsprechenden Züchtungsprojekt beteiligt.

Auch in der Milchwirtschaft ist der männliche Nachwuchs unerwünscht. Die rund vier Millionen Milchkühe in deutschen Ställen müssen jedes Jahr kalben, damit die Milchproduktion gewährleistet ist. Während die weiblichen Kälber zu Milchkühen herangezogen werden, ist die Verwendung der männlichen Tiere schwierig. „Meistens werden sie bereits nach zwei Wochen an Mastbetriebe abgegeben“, erklärt Anja Frey, die seit vielen Jahren einen Demeter-Hof in Baden-Württemberg betreibt. Und weil diese Mastbetriebe meist im Ausland sind, erwartet die Kälber ein qualvoller Transport, den ein Teil von ihnen nicht überlebt.

Das Bundeslandwirtschafts­ministerium hat mit rund 5 Millionen Euro die Entwicklung von Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Brut-Ei gefördert. Dabei zeigen sich zwei Methoden als praktikabel: Beim endokrinologischen Verfahren wird nach neun Bruttagen Flüssigkeit aus dem Ei entnommen, um das Geschlecht des Embryos zu bestimmen. Beim spektroskopischen Verfahren wird ein spezieller Lichtstrahl in das Ei-Innere geschickt und das Geschlecht anschließend durch eine Analyse der Reflexion bestimmt.

Die Ökoverbände lehnen die In-Ovo-Geschlechtsbestimmung aus ethischen Gründen ab. Aus ihrer Sicht wird die Tötung unerwünschter männlicher Tiere durch diese Methode nicht verhindert, sondern lediglich auf einen Zeitpunkt vor dem Schlupf der Tiere verlagert. Zudem ist umstritten, ab wann der Embryo Schmerzempfinden entwickelt. Die Tötung des ungeschlüpften und natürlich unbetäubten Embryos könnte also problematischer sein als die Tötung der geschlüpften Küken, die meist rasch und schmerzfrei erfolgt. Zudem sind die Kosten der Methoden zur Geschlechtsbestimmung nicht geringer als jene für die Aufzucht der Bruderhähne.

Die kurze Mast erfolgt oft unter schlechten Bedingungen, da nicht viel Geld und Arbeit in die Tiere investiert wird, deren Fleisch keinen hohen Preis erzielt. Diesen Missstand, der der Ethik der Bio-Tierhaltung widerspricht, wollte die engagierte Landwirtin nicht länger hinnehmen. Auf ihrem eigenen Hof ist bereits seit fast 20 Jahren die kuhgebundene Aufzucht der Alltag. Das bedeutet, dass die Kälber nicht, wie sonst üblich, sofort nach der Geburt von der Mutter getrennt werden, sondern in der Herde bleiben und von der Mutterkuh oder einer „Amme“ aufgezogen werden. Anja Frey beschloss vor einigen Jahren, auch die männlichen Kälber auf diese Weise zu mästen.

Der Erfolg gab ihr recht: Die Bullen wuchsen gut und vor allem artgerecht heran. Um ihre Erfahrungen weiterzugeben, bot sie Schulungen für interessierte Land­wir­t*in­nen an und gründete 2019 schließlich die „Bruderkalb-Initiative Hohenlohe“ für Bioland- und Demeter-Betriebe, der inzwischen fast 50 Betriebe angehören und die in diesem Jahr zu den Preisträgern des Bundeswettbewerbs Ökologischer Landbau des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gehört. Mit viel persönlichem Einsatz baute sie langfristig regionale und überregionale Strukturen zum Vertrieb des hochwertigen Fleisches auf.

Die Balance zwischen Tierwohl und Ökonomie ist dabei nicht immer leicht zu halten, wie Anja Frey erklärt: „Die Aufzucht am Euter ist kostenintensiver, da das Kalb dabei sehr viel mehr Milch trinkt als bei der Fremdaufzucht.“ Allerdings wachsen die Tiere dabei auch so stattlich heran, dass sie es mit dem Nachwuchs aus speziell für die Mast gezüchteten Rassen aufnehmen können. Dennoch ist, wie bei der Legehennenzucht, auch hier auf lange Sicht das „Zweinutzungstier“ das Ziel: Rassen, die gleichermaßen für Milch- und Fleischgewinnung geeignet sind. Dafür braucht es allerdings Geduld, denn die Milchkuhherden können nur nach und nach umgestellt werden. Aber diese Geduld bringen die engagierten Land­wir­t*in­nen wie Anja Frey gern auf: „Das gebietet der Respekt vor den Tieren.“

www.bruderhahn.de

www.bruderkalb.wordpress.com

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