piwik no script img

heute in bremen„Probleme mit der Kohle sieht man jeden Tag“

hbs

Sergej Sumlenny

40, ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew.

Interview Lotta Drügemöller

taz: Herr Sumlenny, Sie diskutieren heute über europäische Perspektiven auf Atomkraft. Gibt es die?

Sergej Sumlenny: Wir stehen in Deutschland ziemlich alleine mit der Ablehnung der Atomkraft. Ich lebe in Kiew – die deutsche Debatte geht an der Diskussion hier total vorbei. Der Atomausstieg scheint ein First-World-Problem zu sein: Es scheint vielen nicht machbar, gleichzeitig aus Kohle und Kernkraft auszusteigen.

Man kann sich ja für Kohle entscheiden …

Die Probleme mit der Kohle sieht man hier jeden Tag. Da ist einmal die Abhängigkeit von Russland: Die meisten Kohlegruben liegen in den besetzten Gebieten im Donbass. Außerdem sind die Kohlekraftwerke super schmutzig: Wegen der Luftverschmutzung gibt es Zigtausende Tote pro Jahr. Und weil die Werke nie renoviert wurden, gibt es immer wieder Stromausfälle. Aus dieser Sicht heraus denkt man nicht so negativ über Atomkraft.

Hat der GAU in Tschernobyl nicht zum Nachdenken geführt?

Er wurde damals durch die sowjetische Regierung ausgeblendet und wird auch heute nicht breit diskutiert. Durch noch größere Ereignisse beim Zusammenbruch der UdSSR ist der GAU in der Wahrnehmung wenig hängen geblieben.

Ist erneuerbare Energie keine Option?

„GAU macht schlau?!“: Bestandsaufnahme nach den Atom-Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, 19 Uhr, mit Zoom, Link auf www.boell-bremen.de

Sie gilt als teuer. Die Vergütung für erneuerbare Energien wurde für die ersten Jahre von der Regierung hoch angesetzt, damit der Markt attraktiv ist für Investoren. Die Konsumenten zahlen aber nur einen niedrigen Festpreis. Die Differenz ist vom Haushalt nicht gedeckt. Die Regierung hat deshalb eine Milliarde Euro Schulden bei Erneuerbaren-Stromerzeugern. Bei den Bürgern bleibt hängen: Erneuerbare sind zu teuer. Gleichzeitig werden Kosten der Atomenergie unterschätzt: Die Wartung, die Brennstäbe, der Müll tragen über Jahrhunderte zu Kosten bei.

Wenn ein GAU nicht reicht: Was müsste passieren, um ein Bewusstsein für die Gefahren zu entwickeln?

Eine massive Steigerung der Lebensqualität. Wir diskutieren in Deutschland über verschiedene Impfstoffe, weil wir sie haben, wir diskutieren über bessere Energieversorgung, weil es geht. Die Ukraine führt einen Umweltüberlebenskampf. Die Auswirkungen der Kohle sieht man täglich. Niemand leistet es sich, an die potenzielle Gefahr in 20 Jahren zu denken.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen