die woche in berlin
: die woche in berlin

In der Diskussion um das Pankower Tor zeigt sich, dass Bürgerbeteiligung tatsächlich gerade auch in der pandemischen Zeit geht, während das Enteignungs-Volksbegehren mit dem gerade gestarteten Unterschriftensammeln schon Ängste wecken kann. Und eine Studie zeigt beim Blick ins alte Westberlin gruselige Verstrickungen pädosexueller Netzwerke

Man kann im Chat einfach nicht schreien

Diskussion um Pankower Tor klappt gut im Onlineformat

Vor der Pandemie wäre die Hütte voll gewesen. In der Aula irgendeiner Schule wären zweihundert Menschen der Einladung des Möbelkönigs Kurt Krieger gefolgt und hätten ihm anlässlich der nun vorliegenden Entwürfe für die Bebauung des Pankower Tors die Meinung gegeigt. Gut möglich auch, dass die Versammlung im Geschrei einiger weniger untergegangen wäre. Schließlich war am Tag der Versammlung bekannt geworden, dass der Nabu das ganze Verfahren stoppen will. Weil sich eine Kreuzkröte nicht so einfach nach Brandenburg umsetzen lasse.

Es waren aber keine normalen Zeiten, in denen am Montag der Onlinedialog zu einem der größten Bauvorhaben in Berlin stattfand. Statt in einer Aula trafen sich die mehr als zweihundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Zoom. Im großen Versammlungsraum freuten sich der Investor, der Pankower Bezirksbürgermeister und der Baustadtrat, dass es nun endlich vorangehe nach dem jahrelangen Tauziehen um die Größe einer Shopping-Mall und die Zahl der zu bauenden Wohnungen.

Dann wurden die sechs vorliegenden Entwürfe vorgestellt, bevor sich die Versammlung in die verschiedenen Räume begab, um die bisherigen Ergebnisse zu diskutieren. Geleitet wurden das Plenum und die Arbeitsgruppen von Moderatorinnen der Agentur Zebralog, und am Ende kamen alle nochmal in großer Runde zusammen, um zu erfahren, wie es im Verfahren nun weitergeht.

Der Rahmen des Onlinedialogs war also durchaus konventionell. Statt in Klassenräume wurden die Arbeitsgruppen in digitale Räume, die Breakout Rooms, verlegt, wie es bei Zoom heißt. Dort konnten die Moderatorinnen die Skizzen präsentieren, um die es jeweils ging. Angeordnet waren die Arbeitsgruppen im Fishbowl-Format, um den freien Platz im Stuhlkreis mussten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen per Handzeichen melden.

Eine Besonderheit aber gab es, und das war die überraschend konzentrierte und konstruktive Diskussion. Die entfaltete sich nicht nur in den Wortmeldungen der Beteiligten im Stuhlkreis, sondern auch und vor allem im Chat. Unentwegt wurde dort kommentiert, kritisiert, aufeinander eingegangen, sodass die Wortmeldungen per Kamera und Mikrofon und die Beiträge im Chat zwei Ebenen eines Austauschs bildeten, die sich gegenseitig beeinflussten.

Im Ergebnis führte das dazu, dass im Vergleich zum Präsenzformat beim Onlineformat über die Chatfunktion deutlich mehr Menschen zu Wort kamen. Nicht nur die üblichen Verdächtigen mit ihren vorbereiteten Statements konnten sich so Gehör verschaffen, sondern auch diejenigen, denen es nicht um die große Bühne, sondern um die Sache geht.

Gut möglich also, dass Onlineformate die Bürgerbeteiligung neu erfinden. Schön, dass es keine Nörgler gab, kommentierte am Ende einer der Beteiligten. Vielleicht ist aber auch der Onlinedialog an sich nörgelerschwerend. Man kann im Chat halt einfach nicht schreien.

Uwe Rada

Wieder soll da ein Gespenst umgehen

Enteignungs-Volksbegehren startet in die zweite Phase

Langsam beginnt die Rhetorik heißzulaufen: Der FDP-Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Sebastian Czaja twitterte am Mittwoch, „Bauen statt Klauen“ sei den Linken fremd. Er klingt damit schon fast wie die AfD-Bundesfraktionschefin Alice Weidel, die mal polterte, die Grünen seien auf dem Weg „in den Betonkommunismus“, weil ihr Vorsitzender Robert Habeck Enteignungen zur Bekämpfung von Wohnungsnot nicht grundsätzlich ausschließen wollte.

Aber was soll die sich formierende Front zur Verteidigung des Eigentums einiger Großkonzerne, die von Teilen der SPD bis zur AfD reicht, auch sonst tun. Die Angst vor dem Kommunismus zieht nun mal, sie auszubeuten ist die naheliegende politische Strategie – insbesondere, da eine nüchterne Betrachtung der Fakten der eigenen Sache wenig hilft.

Denn Fakt ist: Mit einer Revolution oder dem Kommunismus hat das Volksbegehren nichts zu tun. Weder wird hier ein Staat gestürzt noch die kapitalistische Produktionsweise abgeschafft – auch ein paar übereifrige Ak­ti­vis­t:in­nen auf Twitter sollten sich dessen bewusst werden. Das Volksbegehren ist zunächst etwas zutiefst Demokratisches: Es fordert, dass die Ber­li­ne­r:in­nen selbst entscheiden dürfen, wie ihre Wohnraumversorgung organisiert werden soll.

Erst in den 1990ern und 2000er Jahren wurden die landeseigenen Wohnungen häufig zu Spottpreisen verhökert. Dies geschah unter ebenjener neoliberalen Doktrin, die jetzt verkündet, es werde dann am besten für alle gesorgt, wenn Großkonzerne ihre Profite maximieren.

Dagegen will das Volksbegehren dem privaten Wohnungsmarkt einen hinreichend großen öffentlichen Wohnungsbestand entgegenstellen – damit letztlich auch die Privatwirtschaft akzeptable Angebote für die Menschen schafft. Das ist kein Kommunismus, das ist Karl Schiller: „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig.“ Zur Erinnerung: Unter diesem Slogan wandte sich die SPD im Jahr 1959 vom Sozialismus ab.

Wirklich radikal, ja regelrecht fanatisch ist es also eher, sich an einer dramatisch gescheiterten Wirtschaftsdoktrin festzuklammern. So kann die Initiative nur gewinnen: Sie kann gelassen mit Fakten argumentieren, während sich die anderen mit Kampfbegriffen überschlagen.

Am Freitag ging das Begehren mit einer Auftaktdemonstration in die nächste Stufe. Nun heißt es: Sammeln, sammeln, sammeln. Full Disclosure: Auch der Autor wird aktiv dabei sein. Holen wir uns diese Stadt zurück. Timm Kühn

das war‘s

Die Angst vor dem Kommunismus zieht nun mal, sie auszubeuten ist die naheliegende politische Strategie

Timm Kühn über Ängste, die das Enteignungs-Volksbegehren auslöst

Man hat noch nicht mal weggesehen

Studie zu den Schattenseiten der sexuellen Liberalisierung

Wenn es dieser Tage einen Grund gibt, das 1980 erschienene Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ noch mal zu lesen, dann nicht, weil die Biografie der Berlinerin Christiane F. neu verfilmt als Serie bei Amazon Prime läuft. Sondern weil die Fixer-Story Strukturen beschreibt, die auch damals schon erkennbar waren, die aber niemanden interessierten: Der „Babystrich“ am Zoo war ein Eldorado für pädosexuelle Freier, betrieben von einem professionellen Kinderhändlerring. Und kräftig nachgefragt von einer Kundschaft, die sich aus Szene-Reiseführern informierte, wo junges Fleisch „sauber und appetitlich zum Mitnehmen“ angeboten wurde.

Westberlin war bis zur Wende das Zentrum pädosexueller Netzwerke. Das wird in einer Vorstudie deutlich, die am Mittwoch von der Unabhängigen Kommission für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs präsentiert wurde. Im Auftrag der Kommission hatten die Historikerin Iris Hax und der Kulturwissenschaftler Sven Reiß Klein- und Kleinstarchive der Schwulen-, Lesben- und Alternativszene durchforstet. Dort fanden sie jede Menge Hinweise darauf, dass sich pädosexuelle Akteure, die sexuelle Kontakte von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen legitimieren wollten, nicht nur effektiv im Windschatten der Homosexuellenbewegung entfalten konnten, sondern auch in Nischen der Alternativkultur wie der alternativen Pädagogik oder in der Autonomenszene.

Dass Pädosexuelle als verfolgte sexuelle „Minderheit in der Minderheit“ bis in die 1990er Solidarität im linksalternativen Milieu genossen, ist nicht neu. Dass sie in Kreuzberg, Schöneberg und Neukölln als Freizeit- und Hilfsangebote getarnte Missbrauchsstrukturen betrieben wie den „Falckensteinkeller“, oder das „Kindersorgentelefon“, ist bereits aus der Aufarbeitung der Grünen bekannt. Neu ist, wie organisiert und kommerziell die pädosexuellen Zirkel agierten.

Die VerfassserInnen der Studie verweisen auf Kleinverlage, die mit sexualisierten Fotos nackter Kinder handelten, die sie in Szeneblättern bewarben. Oder auf schwule Reiseführer, die Bars mit kindlichen Strichern im Hinterzimmer empfahlen. Am deutlichsten wird der organisierte Charakter sexueller Ausbeutung durch die Betroffenenberichte von Kevin (Name geändert) und Ingo, die beide im Grundschulalter von Tätern umgarnt und dann in pädosexuellen „Freundeskreisen“ herumgereicht wurden, in konspirativen Wohnungen und auf dem Strich. Letzteres unter den Augen der Polizei, deren Maßnahmen zum Kinderschutz darin bestanden, dass sie die Jüngsten auf dem „Schwulenstrich“ aufgriffen und am Stadtrand aussetzten. Ähnlich dürfte es bei den Mädchen gewesen sein, die zu Christiane F.s Zeiten sich an der Kurfürstenstraße prostituierten.

Berlin hat noch viel aufzuarbeiten, was die Schattenseiten der sexuellen Liberalisierung nach den 1970ern angeht – nicht nur die Polizei, für die im Umgang mit Junkie- oder Trebekindern der Kinderschutz damals offenbar sekundär war. Oder der Jugendsenat, mit dessen Einverständnis damals Pflegekinder an vorbestrafte Pädosexuelle vermittelt wurden. Sondern auch die alternativen Szenen, die nicht nur wirre Traktate für „befreite Kindersexualität“ toleriert hatten, sondern auch ganz konkrete Übergriffe. Und dies bis in die 2000er. Das Schwule Museum hat einen Anfang gemacht und seine Archive für die ForscherInnen geöffnet. Jetzt muss es nur noch jemand wissen wollen. Nina Apin