: Alles nur verdaut
Im Nordwestdeutschen Rundfunk startete 1953 der Wahlhamburger Clemens Hahn die erste deutsche TV-Kochshow. Ein Bremer Professor legt nun ein Buch über ihn vor
Von Jens Fischer
Krieg und Nationalsozialismus endlich vergessen, wirtschaftswunderlichen Wohlstand probieren und aus der heimischen Klause hinaus in die große, weite Welt träumen. Derart veranlagte Menschen wurden vom 20. Februar 1953 bis zum 16. Mai 1964 mit 185 TV-Sendungen unter dem Titel „Bitte in zehn Minuten zu Tisch“ beglückt. Dort stellte Schauspieler Carl Clemens Hahn, der sich nach seiner Heimatgemeinde Wilmenrod nannte, als charmierender Kochdarsteller und schamloser Schleichwerber in fröhlicher Naivität die gerade verfügbaren Lebensmittel in neuen Kombinationen zusammen und gab ihnen ulkig fernwehtrunkene Namen.
Die Bastelanleitung für den Hit unter den Speisen geht so: Eine Scheibe des gerade erst in deutsche Küchen eingezogenen Kastenweißbrots wird als klassisches Quadrat von beiden Seiten in einem blubbernden Buttersee auf dem Herd gebräunt. Um das lukullische Kunstwerk auch zu einem der geometrischen Formen zu machen, kommt auf die eckige Grundlage eine ovale Scheibe Kochschinken. Als sirupsüßer Kontrast zur salzigen Grundlage kommt darauf in formidabler Kreisform eine Ananasscheibe aus der Dose zu liegen und wird, allen Gesundheitsbedenken zum Trotz, von einem weiteren Quadrat gekrönt, einer Scheibe Chester-Schmelzkäse.
Um sie ihrer Bestimmung zu überführen, muss der Toastturmbau nur noch im Ofen der Oberhitze ausgesetzt werden. Final drapiert der Gourmet eine Cocktailkirsche als Kugelelement auf die Kreation und haucht pointilistisch einige kleine Paprikapulverprisen obendrauf. Fertig ist der Toast Hawaii. Eine abstrakte Skulptur und konkretes Lebensmittel aus dem Bereich des kulinarischen Brutalismus, der gustatorische Aufmerksamkeitsreize gegeneinander in Stellung bringt.
1955 hat Wilmenrod im St. Paulianer Hochbunker-Studio des NWDR den Toast Hawaii vor laufender Kamera live komponiert und populär gemacht. Allein der Name: eine exotische Geschmacksverheißung mit Assoziationsspuren von Strandurlaub unter Palmen eines paradiesischen Eilandes. Funktioniert bis heute. Pizzen, Flammkuchen, Steaks, Baguettes werden entsprechend belegt, Aufläufe derart gemixt.
Dem Inspirator widmet der in Bremen lebende Roland W. Schulze jetzt ein Buch: „Clemens Wilmenrod – der erste Fernseh-Koch und Erfinder des Toast Hawaii“. Den esse er selbst unheimlich gern, gesteht der Autor. „Als ich vor 35 Jahren aufgehört habe zu rauchen, setzte das meine Geschmacksnerven frei, seither koche ich und bekoche auch andere gern, bin zudem ein Kochshow-Junkie.“
Pro Woche könne man in Deutschland 50 verschiedene Brutzel-Sendungen gucken, hat er gezählt. Und viele angeschaut. „Das Ergebnis meiner Forschung ist eines meiner fünf Bücher, die ich in der Coronazeit bisher geschrieben habe“, so Schulze. Da er laut eigener Aussage keine Lust hat, bei Verlagen um Veröffentlichungen zu betteln, gibt er seine Werke als Book-on-Demand oder kostenlosen PDF-Download heraus. Bisher widmete er sich Bremer Bräuchen und Speisen, Kaffee- und Tee-Rezepten, Picknick-Tipps sowie seinen Begegnungen mit der DDR-Küche zur Wendezeit.
Als „Gastprofessor an verschiedenen europäischen Universitäten“ ist Schulze, Jahrgang 1950, im Ruhestand, als Geschäftsführer seines Unternehmens für „Digital interactive visual applications“ weiterhin aktiv. Online stellt er sich auch vor als Software-Entwickler, Künstler, Medienwissenschaftler, Universitätsdozent für visuelle Kommunikation, Diplom-Soziologe, Picknickkorb-Vermieter, Schriftsteller, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Pionier der ersten computerunterstützten Lernsysteme, schreibender und filmender Journalist, Veranstalter von Tastings und „Genussreisen“ etc. etc. Warum er über einen Nachkriegskoch schreibt, über den in allen Medien schon reichlich publiziert und dessen Leben bereits verfilmt wurde? „Was fehlt, ist ein umfassendes Buch über den Mann, den alle Fernsehköche kopieren“, so der Autor. Gäbe es denn Neues zu erzählen?
Er habe herausgefunden, sagt Schulze, der Toast Hawaii sei nicht Wilmenrods Idee. Muss der entsprechende Wikipedia-Artikel umgeschrieben werden? Dort ist zu lesen: „Vermutlich übernahm Wilmenrod das Rezept jedoch von seinem Konkurrenten und Lehrer Hans Karl Adam. Laut der Historikerin Petra Foede handelt es sich möglicherweise um eine Variante des in den USA verbreiteten Grilled Spamwich, die leicht an deutsche Verhältnisse angepasst wurde. Dessen Rezept verwendet statt Kochschinken Spam (Frühstücksfleisch) und statt einer Käsescheibe geriebenen Käse, unterscheidet sich sonst aber nicht. Veröffentlicht wurde das Rezept 1939 in dem Rezeptheft „Hormel invites you to dine“ des Spam-Herstellers Hormel. Spam war jedoch […] nicht im deutschen Einzelhandel erhältlich.“
Und wie formuliert das Schulze? „Vermutlich übernahm Wilmenrod das Rezept jedoch von seinem Konkurrenten und Lehrer Hans Karl Adam. Aber auch der ist nicht der Erfinder! Laut der Historikerin Petra Foede (Artikel in Frankfurter Rundschau 2011) handelt es sich möglicherweise um eine Variante des in den USA verbreiteten Grilled Spamwich, die leicht an deutsche Verhältnisse angepasst wurde…“ Und so weiter. Man kann, was auf Wikipedia steht, jetzt also auch in Buchform lesen – oder auf in Google-Books eingestellten Seiten. Fein.
Aber wie ging das los mit den Kochshows, war Wilmenrod dort als Erster am Start? Hier lohnt ein Blick in „Küchen, Kochen, Köche – Inszenierungsstrategien in Kochshows“: Silvia Schollers hat mit dieser Arbeit 2013 den Titel der Magistra der Philosophie an der Universität Wien erlangt.
Darin ist zu lesen: „Eine der ersten Sendungen, in denen es um Kochen und um Küchen ging, war ‚The Queen was in the Kitchen‘, die 1945 erstmals über die Bildschirme lief. Die Sendung wurde von einem Hersteller für Küchenprodukte gesponsert und handelte hauptsächlich davon, wie Küchen in Zukunft aussehen könnten …“
Und was weiß Schulze darüber? „Die erste Fernsehsendung“, schreibt er, „bei der es hauptsächlich ums Kochen ging, flimmerte 1945 in den USA über den Bildschirm. Die Sendung hatte den Titel ,The Queen Was In The Kitchen‘. Die Sendung wurde von einem Hersteller für Küchenprodukte gesponsert und handelte hauptsächlich davon, wie Küchen in Zukunft ausgestattet sein sollten …“
Eine wissenschaftliche Zitierweise pflegt Schulze nicht, in der Literaturliste am Ende des Buchs weist er immerhin auf ihn inspirierende Werke hin. Reizvoll allerdings, einige der laut Schulze zirka 300 Wilmenrod-Rezepte zu entdecken. Als „sehr leckere“ Zubereitung stellt er die „Gewitterwürstchen“ vor. Fleischwürste pellen, aufschlitzen, den Spalt eventuell mit Senf ausmalern, stets aber mit Schmelzkäse füllen und mit Jagdwurstscheiben bedecken, Margarineflöckchen obendrauf und in einer abgedeckten Glaskasserolle auf dem Herd erhitzen, bis die Würste unten braun sind. Guten Appetit!
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