berliner szenen: Plötzlichist er am Gewinnen
Diesmal nehme ich Laptop und Pad mit, um M zu zeigen, wie toll Schach im Internet ist. Ich möchte auch testen, ob seine Feinmotorik noch gut genug ist, den Touchscreen zu bedienen. Er kann kaum die Schachfiguren führen. Aber das liegt auch an den Handschuhen, die er immer trägt, weil die Finger kalt sind. Ich beginne eine Demo-Partie auf Lichess und halte ihm dann das Pad hin, damit er weiterspielt. Er spielt drei Züge, es geht ganz gut. Ich bin besorgt, dass das Pad gleich runterfällt, und will es anders platzieren. Dann hat er keine Lust mehr.
Ich spiel das von ihm angefangene Spiel gegen die Engine schnell noch zu Ende – es wäre respektlos, einfach abzubrechen – und geh in die Küche. Während der Kocher Wasser heiß macht für meinen Orange-Ingwer-Tee und im Radio die Bundesliga läuft, zähle ich die gebrauchten Teebeutel, die zum Trocknen in Tassen und Schalen liegen. Es sind 17. Ich befestige einen der Teebeutel an einem Türgriff des Küchenschranks, weil das praktischer ist, und gehe mit dem Tee wieder zu M. Während ich drehe, stimmt er „ein Joint, ein guter Joint …“ an. Nachdem ich gegähnt habe, eröffnen wir die Feindseligkeiten.
Die ersten Züge sind okay, dann kann er sich nicht mehr konzentrieren. Dreimal muss ich darauf hinweisen, dass die Figur, die er gerade ziehen will, gefesselt ist. Ich erläutere eigene Züge im routinierten Ton von Großmeister Hikaru und patze dann selber; plötzlich ist er am Gewinnen und muss nur noch durchlaufen mit seinen zwei Bauern, die ich nicht mehr angreifen kann. Ich bin verloren und starte einen Kamikazesturm. Es macht ihn nervös, dass ich plötzlich so schnell ziehe. Statt zu schlagen, weicht er dem ungedeckten Bauern reflexartig aus und ist ein paar Züge später matt. Ich schimpfe, weil er so blind ist; er murmelt was von üben. Im Radio verliert Schalke. Detlef Kuhlbrodt
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