Mein Vater, der Trinker

Die Geschichte eines jungen Hamburgers, dessen Vater Alkoholiker war und der deshalb selbst krank wurde. Hilfe zur Selbsthilfe bieten Al-Anon und die Jugendgruppe Alateen als Anlaufstelle für Kinder aus suchtkranken Familien

Nach außen wahrten Christoph und seine Mutter das Bild der intakten Familie Kinder von Suchtkranken sind gefährdet, selbst abhängig zu werden

Von Christine Schams

Die Erwartungen waren groß. „Endlich‚ der Kerl weg. Jetzt wird alles gut“, dachte sich Christoph (Name geändert). Als sein Vater im Jahr 2000 aus dem kleinen Reihenhaus in Harburg auszog, wähnten sich Christoph und seine Mutter in Sicherheit. Endlich, so dachten sie, müssten sie nicht mehr auf den betrunkenen Vater Rücksicht nehmen, müssten nicht mehr ihn und seine unkontrollierten Wutausbrüchen ertragen. Doch, wie so oft, kam alles ganz anders. Mutter und Sohn, bis vor kurzem noch eine verschworene Einheit gegen den trinkenden Vater, gerieten immer häufiger aneinander und stritten sich beinahe täglich. Christoph suchte die Flucht in Drogen, begann zu kiffen und wurde in der Schule immer schlechter.

Heute ist er 20 Jahre alt. Ein schlanker, ernster junger Mann, der überlegt und offen über seine Familie, seine Kindheit erzählt. Seinen richtigen Namen möchte Christoph dennoch nicht nennen. Er ist nebensächlich. Es geht um seine Geschichte, und die ist charakteristisch. Sie ist charakteristisch für Kinder, deren Mütter oder Väter trinken.

Christophs Vater war Alkoholiker. Einer, dessen Sucht nicht offensichtlich war, einer, der hinter der Fassade einer gutbürgerlichen Familie mit schmuckem Reihenhaus, Kleinwagen und geregelter Arbeit täglich bis zur Besinnungslosigkeit trank. Nicht einmal die engsten Freunde ahnten etwas, zum Teil wissen sie es bis heute nicht.

Nach außen wahrten Christoph und seine Mutter das Bild der intakten Familie: Sie verschwiegen das Problem, ordneten ihr eigenes Leben den Stimmungsschwankungen und Wutanfällen des Vaters unter. Co-Abhängigkeit nennen Psychologen dieses Phänomen. „Aber auch miteinander haben wir über das Problem meines Vaters nie geredet“, berichtet Christoph. Daran änderte sich auch nichts, als der Vater auszog, als er sich wenig später das Leben nahm.

Erst als die Situation mit seiner Mutter eskalierte, suchte Christoph Hilfe – bei einer Al-Anon-Familiengruppe, der unabhängigen und anonymen Gemeinschaft von Angehörigen und Freunden von Alkoholikern. „Meine Mutter war bereits seit längerer Zeit bei Al-Anon und drängte mich regelrecht, auch dorthin zu gehen“, erzählt Christoph. Vor über 40 Jahren in den USA gegründet, gibt es heute weltweit mehr als 30.000 Al-Anon- und Alateen-Gruppen in 115 Ländern, in Deutschland allein sind es zurzeit etwa 960, in Hamburg 36. Teil der Al-Anon-Gemeinschaft sind die so genannten Alateen-Gruppen für Kinder und Jugendliche von Alkoholikern. Jede dieser Selbsthilfegruppen agiert eigenständig und erhält sich selbst: Es werden keine Mitgliedsbeiträge erhoben, Spenden oder Subventionen werden abgelehnt.

Al-Anon geht davon aus, dass Alkoholismus eine Familienkrankheit ist, an der nicht nur der Alkoholkranke, sondern auch alle Angehörigen, die mit ihm in Verbindung stehen, erkranken. Durch das gemeinsame Teilen von Erfahrung, Kraft und Hoffnung könnten Schuld und Schamgefühle durchbrochen und wieder Freude am Leben gewonnen werden.

Einmal pro Woche treffen sich die Mitglieder von Al-Anon und Alateen zu Meetings. Sie reden, tauschen Erfahrungen aus, versuchen sich gegenseitig zu helfen. „Niemand wird zum Reden gezwungen, man kann auch einfach nur zuhören“, erklärt Christoph, der weiß, wie schwer der erste Schritt in die Gruppe ist: „Ich war 15 Jahre alt und damit bei Al-Anon mit Abstand der Jüngste und hatte wahnsinnig Angst, dass mich dort alle schräg ansehen.“ In Hamburg gab es zu dieser Zeit noch keine Alateen-Gruppe und so gründete Christoph im Frühjahr 2001 in Harburg selbst eine, zwei weitere – in Lohbrügge und Groß Borstel – sind mittlerweile hinzu gekommen. Das Verständnis der anderen half Christoph zu begreifen, dass er für die Alkoholkrankheit seines Vaters nicht verantwortlich ist. „Durch die Gespräche habe ich erkannt, wie ich unter der Situation leide, sie ändern kann und dass es auch für mich ein Leben gibt.“

Früher konzentrierte sich Christophs Leben einzig auf die Sucht des Vaters. „Wann er mit dem Trinken begann, weiß ich nicht, aber eigentlich trank er immer erst mal ein Bier, wenn er von der Arbeit nach Hause kam“, erinnert er sich. Doch aus dem einen Feierabendbier wurden mit der Zeit immer mehr. 1995 dann der Anfang vom Ende. Die Familie zieht in ein gutbürgerliches Reihenhaus nach Harburg. Der Vater, seit kurzer Zeit arbeitslos, rührt im Haushalt keinen Finger mehr, ein geregeltes Familienleben findet längst nicht mehr statt. Die meiste Zeit sitzt der Vater im Keller vor dem Fernseher und betrinkt sich.

Christoph und seine Mutter suchen sich Nischen im Haus, um dem Vater aus dem Weg zu gehen. Doch das gelingt nicht immer. Und der schlägt immer öfter zu. Weitaus schlimmer jedoch als Schläge ist für Christoph und seiner Mutter der psychische Druck: „Wir haben jeden Tag die Stimmung abgecheckt, wie ist er drauf, was tut er, wie betrunken ist er, und uns dann dementsprechend verhalten“, erklärt Christoph.

Eines Tages eskaliert die Situation. Auslöser, wie so oft bei den Streitigkeiten, ist eine Lappalie: Christoph hat nicht gesaugt. Der betrunkene Vater rastet aus und versucht, Christophs Zimmertür einzutreten. „Er brüllte dabei immer: Bring‘ dich doch um, ich helfe dir auch dabei.“ Damals war Christoph 13 Jahre alt und Selbstmord für ihn kein abwegiger Gedanke: „Ich hatte den Plan, dass, wenn gar nichts mehr geht, ich mich umbringen werde.“

Seinen Freunden kann sich Christoph nicht anvertrauen. Aus Angst, sie könnten von der Sucht des Vaters und den chaotischen Familienverhältnissen zu Hause erfahren und sich von ihm abwenden, lügt er. „Zum Spielen bin immer ich zu Freunden gegangen, und wenn sie einmal zu mir wollten, habe ich Ausreden erfunden, nur damit sie ja nicht zu mir kommen“, berichtet er. Die permanente Anspannung – der Druck vom Vater, das Versteckspiel vor Freunden – hat psychosomatische Folgen, Christoph leidet an chronischen Magen-Darm-Beschwerden. In der Schule sackt er ab, immer häufiger macht er seine Hausaufgaben nicht.

Den Lehrern fällt sein Leistungsabfall nicht auf – für Christoph bis heute unverständlich. „Sie hätten doch etwas merken müssen, nachhaken können, was mit mir los ist!“, kritisiert er und zum ersten Mal wird er zornig, seine Stimme lauter. Er schweigt einen Moment und sagt dann: „Ob ich mich ihnen aber geöffnet hätte, weiß ich nicht.“

Das konnte Christoph erst bei Al-Anon. Der Alateen-Gruppe, die er vor einigen Jahren selbst gründete, ist er heute mit 20 Jahren entwachsen. Auf die Gespräche in der Selbsthilfegruppe will er dennoch nicht verzichten.

Auch wenn sein Vater längst tot ist, er selbst mit Zivildienst und Studium andere Probleme hat, bestimmt die Alkoholkrankheit seines Vaters sein Leben bis heute: Wenn Christoph mit Freunden ausgeht, will er dazugehören, mit ihnen feiern, und natürlich, ab und zu, auch Alkohol trinken. „Aber das ist Russisches Roulette“, weiß Christoph. „Kinder aus suchtkranken Familien sind besonders gefährdet, selbst abhängig zu werden oder sich einen abhängigen Partner zu suchen.“

Hass empfindet er für seinen Vater trotz allem nicht. Nicht mehr. Im Gegenteil: „Früher war ich in meinen Gefühlen hin und her gerissen. Heute kann ich sagen, ich liebe meinen Vater.“

Kontaktadresse: Al-Anon & Alateen, Saarlandstraße 9, 22303 Hamburg, ☎ 271 33 54, www.al-anon.de.