Die Wahrheit: Haus der tausend Diktatürchen
In Pandemiezeiten ist der Föderalismus die Krönung deutscher Politik. Unzählige Kleinststaaten warten darauf, aus dem historischen Grab aufzuerstehen.
Eines hat die Coronakrise allen Menschen in Deutschland vor Augen geführt: Der Föderalismus lebt. Er feiert fröhliche Urständ. Er tanzt auf dem Tisch, steppt mit dem Bär, lässt fünfe gerade sein und benimmt sich insgesamt sehr schlecht. Aber er kann es sich ja auch leisten. Denn er ist notwendig. Ein System nämlich, das in Ulm Schulkinder jedes zweiten Jahrgangs nach Hause schickt, im benachbarten, nur durch eine 62 Meter lange Brücke getrennten Neu-Ulm jedoch Schulkinder aller Jahrgänge in die Schule lässt, dafür aber nur die halbe Klasse, so ein System kann nicht ganz schlecht sein. Auch nicht ganz logisch, aber egal.
Dennoch stellt sich die Frage: Sind sechzehn Ministerpräsidenten, sechzehn Innenminister, sechzehn Kultusminister und sechzehn Landwirtschaftsminister mit jeweils sechzehn Konzepten für Polizei, Schulen und Ackerflächen wirklich genug? Muss nicht noch viel mehr Ländersache werden?
Dürstet dieser Staat nicht nach mehr Diskussionsrunden zwischen narzisstisch auffälligen Ministerpräsidenten, nach mehr coolen „Zeigst du mir deine Inzidenzwerte, zeig ich dir meine“-Spielchen, nach mehr Software-Problemen zwischen Bundesländern, die das Wort „Söfdwär“ (Sachsen) oder „Schoftwehr“ (Schwaben) auch vollkommen unterschiedlich aussprechen? Wenn schon ein einziger Landtag die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im gesamten Bundesgebiet ins finanzielle Chaos stürzen kann, dann zeigt sich doch klar und deutlich: Es muss mehr Föderalismus her. Fragt sich nur wie?
Sollte man auch Finanzen, Steuerhoheit und Verteidigung zur Ländersache machen? Klingt verlockend, birgt aber auch Gefahren. Was, wenn einerseits die durch sprudelnde Steuereinnahmen hochgerüsteten bayerischen Cyborgs in Lederhosen mit Drohnenunterstützung die Grenzen zu Tirol lückenlos überwachen, um ein Einsickern verseuchter austrakischer Bergvölker zu unterbinden, während andererseits die bettelarme, nur mit Heugabeln bewaffnete rheinland-pfälzische Armee von hochinfektiösen Belgiern überrannt wird? Nein, der Föderalismus muss erst vermehrt werden, bevor er weiter vertieft werden kann.
Versaarlandung für alle
Anders gesagt: Wenn durch den Föderalismus ein Bürger aus dem Saarland achtmal mehr Einfluss hat auf die Politik des Gesamtstaates als einer aus Nordrhein-Westfalen, dann ist das sicher nicht der Fehler des Saarlandes. Die Versaarlandung Deutschlands muss das endgültige Ziel sein.
Hierbei kann man sich von der Geschichte inspirieren und deutsche Staaten in ihrer ganzen geringen Größe wieder auferstehen lassen. Denken wir nicht voll Wehmut an Schaumburg-Lippe? Wollen wir weiterleben ohne Jülich-Cleve? Her mit Hessen-Darmstadt! Nicht missen wollen wir ein Jota / von Coburg-Sachsen-Gotha.
Eine Unzahl von deutschen Kleinststaaten wartet darauf, wie Lazarus aus dem historischen Grab aufzuerstehen. Eine Zombie-Apokalypse der neuesten uralten Bundesländer hätte zahlreiche Vorteile. Gerade für Journalisten. Gäbe es dann doch in räumlichen Vergleichen endlich ein anderes Flächenmaß als das ewige „So groß wie das Saarland“. Plötzlich sind Ölteppiche so groß wie das Bundesland Oldenburg, Brandrodungen im Amazonas von der Fläche des Freistaates Braunschweig oder ein Müllberg mit einer Ausdehnung des Stadtstaates Passau möglich.
Auch die positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt darf man nicht übersehen. Wenn es nun nicht mehr nur sechzehn Bundesländer gibt, sondern 26, 86 oder 666, braucht es schließlich auch 26, 86 oder 666 Landesregierungen und Kultusministerien, Landespolizeidirektionen und Rundfunkanstalten, Landesämter für Fußpflege und Hasenköttel.
Der Personalbedarf würde explodieren. Was wiederum den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft fördert. Denn auch wenn der Staatsdiener dem Staatsbürger gegenüber unnachsichtig und hartherzig auftreten mag, für einen Kollegen hat er doch immer Verständnis, ein offenes Ohr und viel Empathie. Wenn dann aber fast jeder auf die eine oder andere Weise im Staatsdienst ist, dann herrscht Friede, Freude, Eierkuchen im Lande.
Verbot von blauen Fahrrädern
Der Steuerfahnder hackt dem Gewässerschutzbeauftragten kein Auge aus, der Regierungsoberinspektor keines dem Berufungsrichter. Im totalen Föderalismus sind alle gleich, nur manche durch die Besoldungsgruppen gleicher. Was aber bedeutet, das Menschen endlich wieder beim Staate in Lohn und Brot kommen, die im Kreuzworträtsel die Frage nach dem Erbfaktor (drei Buchstaben) mit „Tod“ beantworten. Und auch wenn jene schlichten Gemüter vielleicht Schwierigkeiten haben, eine Banane zu öffnen oder ihre Nachbarn zu grüßen, im Staatsdienst – das zeigt ein Blick in die Geschichte – ist schon manch kleiner Mann zu unmenschlicher Größe herangewachsen.
Schließlich brauchen neue Bundesländer, Kleinstaaten, Stadtstaaten und Freistaaten auch neu auszuarbeitende Landesverfassungen. Da lassen sich Gewaltfantasien und persönliche Vorlieben in schönstem Juristendeutsch ausleben. Denn wer sagt, dass die neu zu schaffenden deutschen Kleinteilstaaten demokratisch sein müssen? Diese neuartige Gesellschaftsordnung hat eine weitaus geringere Tradition als die von Väter Sitte althergebrachten autokratischen Modelle. Man kann sich da vom despotischen Ausland inspirieren lassen. Der Herrscher von Turkmenistan etwa hat alle schwarzen Autos in seinem Land verbieten lassen. Aus persönlicher Abneigung.
Das muss in einem Deutschland der tausend Diktatürchen doch auch möglich sein: Verbot von blauen Fahrrädern im Herzogtum Ansbach; Schwarzburg führt Gummistiefelpflicht ein; Nördlingen und Memmingen verhängen die Todesstrafe für öffentliches Ausspucken; wer in der Grafschaft Reuß ohne Smartphone angetroffen wird, riskiert zweijährigen Gefängnisaufenthalt; in Wolfenbüttel gilt auf den Straßen Links- und Rechtsverkehr gleichzeitig.
Ja, der totale Föderalismus könnte ein Paradies für die Fans von Willkürherrschaft, Dorftratsch und juristischen Detailfragen werden. Der Satz „Der Staat bin ich“ des Sonnenkönigs Ludwig XIV. wäre keine hohle Phrase mehr, sondern eine exakte geografische Angabe. Und die daraus resultierenden endlosen Konferenzen der Hundertschaften von Länderchefs, Ortskaisern und Provinzdespoten mit der Zentralregierung würden jeden EU-Gipfel wie ein Hochamt der Harmonie aussehen lassen.
Einziges Problem: Um eine Staatsreform solchen Ausmaßes in Deutschland durchzusetzen, bräuchte es die Zustimmung der Ministerpräsidenten im Bundesrat – und die werden sich sicher niemals einig.
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