Gibt es die Schule für alle?

Illustration: Imke Staats

„Von den Lehrern hieß es, dass man Anton nicht überfordern wollte – dabei waren sie überfordert“

Svenja Schrieber

53, ist PR-Beraterin und lebt in Hamburg-Hoheluft. Ihr Sohn Anton ist 15 Jahre alt.

Anton war in einer inklusiven Krippe und in einem inklusiven Kindergarten. Die Kinder haben dort sehr voneinander profitiert. Für sie war von Beginn an klar, dass Menschen verschieden sind und unterschiedlich viel Hilfe benötigen.

Anton kannte vor seiner Einschulung fast alle Buchstaben. Er konnte einiges lesen und schreiben. Deshalb haben wir ihn auf einer inklusiven Grundschule angemeldet. Uns war wichtig, dass Anton sich dort wohlfühlt. Zum Teil hat das geklappt: Er fand schnell Freunde und ist gut in der Klassengemeinschaft angekommen.

Aber eine Schule soll Kindern auch Wissen vermitteln. Und das ist in unserem Fall gründlich schiefgelaufen. Die Grundschule hatte kein Konzept für gelingende Inklusion: Wenn ich Anton am Nachmittag abholte, war er meistens im Schaukelraum oder auf dem Schulhof, während die anderen Kinder im Unterricht saßen. Von den Lehrern hieß es, dass man Anton nicht überfordern wolle – dabei waren sie überfordert.

Als es beim ersten Elternabend um den Deutschunterricht ging, habe ich in Antons Heft geschaut. Es war leer. Darauf angesprochen, hieß es vom Lehrer nur, dass Anton ja nie da sei, sondern draußen spiele. Nach dem Elternabend habe ich geweint. Es hat nicht nur der Wille gefehlt, sondern die Erkenntnis, warum Anton überhaupt Lesen und Schreiben lernen soll.

Auch deshalb ist Anton nach der vierten Klasse auf eine Förderschule gewechselt. Die Betreuung ist eine ganz andere: In Antons Klasse sind acht Kinder. Er geht gerne dorthin und lernt mit Freude. Er wird gefördert und sieht, dass die Lehrerinnen von ihm erwarten, seine Aufgaben zu erledigen.

Auch wenn an unserer Grundschule vieles nicht funktioniert hat, finde ich Inklusion wichtig. Dazu braucht es aber Willen, Kompetenz und die notwendigen Mittel. Die Schule hat einen Bildungsauftrag, und der muss umgesetzt werden – für alle. Nach unseren Erfahrungen könnte ich mir vorstellen, dass dies besser gelingen könnte, wenn auch die Förderschulen die Möglichkeit hätten, sich weiter zu öffnen. Denn dort ist die Expertise seit Jahrzehnten verankert. Sie müssten nur stärker ins öffentliche Leben integriert werden. Protokoll: Finn Starken

„Man musste die letzten beiden Jahre im Internat leben, wo wir von der übrigen Gesellschaft getrennt waren“

Horst Frehe

70, ist Grünen-Politiker und war Staatsrat bei der Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen in Bremen. Er war 1978 Mitbegründer der „Krüppelbewegung“.

Als ich als 16-Jähriger meinen Unfall hatte, war es völlig unüblich, dass Menschen im Rollstuhl außerhalb von Einrichtungen selbstständig leben und einem Beruf nachgehen können. Die ganzen beruflichen Rehabilitationsangebote der 70er-Jahre waren ausgerichtet auf Leute, die etwa als Maurer Rückgratschwierigkeiten oder als Bäcker eine Mehlstauballergie hatten.

Meine Perspektive war es, nach Friedehorst abgeschoben zu werden – das war eine große Einrichtung für behinderte Menschen, um dort allenfalls Körbe zu flechten.

Ich habe stattdessen in einer beruflichen Rehabilitationseinrichtung eine kaufmännische Ausbildung gemacht und dann Betriebswirtschaft studiert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es falsch ist, die Ausbildung in Sondereinrichtungen zu organisieren, statt das sie normal in einem Betrieb und einer Berufsschule stattfindet. Das war schon damals meine Forderung, nicht nur für mich, sondern für alle, weil die Ausbildung von der Wirtschaft nicht als vollwertig anerkannt wurde, obwohl sie mindestens so qualifiziert war.

Wir wohnten und lernten in einer Sondereinrichtung bei Heidelberg. Dort musste man die letzten beiden Jahre im Internat leben, wo wir von der übrigen Gesellschaft getrennt waren. Wenn wir in die Stadt wollten, mussten wir sehen, wie wir dorthin kamen. Wir konnten uns kein Taxi leisten, der Bus hatte hinten nur eine Stufe, man konnte, wenn man sehr geschickt war, halsbrecherisch hineinkommen. Aber in der Stadt ging es weiter mit Bordsteinen, es war ungeheuer schwierig, sich dort mit dem Rollstuhl zu bewegen.

Ich habe fast jede Stufe meines Ausbildungsweges erstreiten müssen, bis hin zum Platz im Studierendenwohnheim. Die größte Änderung, die wir inzwischen erreichen konnten, war die UN-Behindertenrechtskonvention, die uns Menschenrechte zugestanden hat. Zum Beispiel das Recht auf inklusive Beschulung, das Recht, auf einem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz zu finden, mit dem man seinen Lebensunterhalt verdienen kann, die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen. Es war ein langer Weg dahin.

Wäre ich heute der 16-Jährige im Rollstuhl, wäre der Unterschied gewaltig. Ich würde vermutlich eine normale duale Ausbildung machen, kann an Universitäten studieren, weil sie barrierefrei sind, kann öffentliche Verkehrsmittel nutzen.

Aber wenn ich manches sehe, was als Inklusion in der Schule verkauft wird, gehe ich nicht davon aus, dass die Kinder mit Einschränkungen im Klassenverbund genauso lernen können wie die anderen. Wenn ich sehe, wie viele Menschen in Behinderteneinrichtungen leben müssen, entspricht das nicht der UN-Konvention. Wenn man behauptet, wir hätten Inklusion in allen Bereichen erreicht, wäre das eine Lüge. Dennoch ist sie das einzig richtige Ziel.

Protokoll: Friederike Gräff

„Da konnte ich den anderen helfen“

Die Forderschülerin ist 19 und lebt in Bremen

Vorher, an der Grundschule, hatten wir eine Klassenlehrerin, die las die Ergebnisse von allen vor und hat einen fertig gemacht, wenn etwas nicht gut war. Das war an der Oberschule anders. Das war auch eine sehr soziale Klasse, da sind Freundschaften entstanden.

Ich hatte aber den Eindruck, die Klasse war nicht richtig durchmischt. Die meisten Kinder waren einfach sehr leistungsstark. Das war für mich ein Nachteil, weil die Lehrer den Förderbedarf nicht beachtet haben. Manche wussten am Anfang gar nicht Bescheid und haben mir dann viel schwierigere Aufgaben gegeben, als es eigentlich sein sollte. Tja. Und das war dann mein Problem. Die Mathelehrerin hat da einfach nicht immer dran gedacht, dass ich eine Lernbehinderung habe, und wenn man sie dann daran erinnert hat, hat sie gesagt, sie hätte es vergessen.

Der Unterricht in der Schule lief oft so ab, dass man zuerst die anderen Schüler nach Hilfe fragt. Das funktionierte am Anfang, wurde aber am Ende schwer: Weil meine Mitschüler auch mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt waren. Da wussten manche Schüler dann auch nicht weiter, weil die Aufgaben ein bisschen rätselhaft waren.

Ich hätte da viel mehr Förderunterricht gebraucht. Aber die Förderlehrerin war oft für Vertretung eingeteilt, also nicht in unserer Klasse. Das war das grundlegende Problem: Eigentlich sollte die Förderlehrerin da sein, um meine Fragen zu beantworten, und nicht irgendwo anders Vertretung machen.

Mitte der achten haben wir uns entschieden zu wechseln. Die Klassenlehrerin fand das nicht so gut. Ich bin dann auf eine Förderschule gegangen. Die Pädagogik da war eindeutig besser: Der Unterricht wurde für alle Kinder gestaltet und nicht für zwei, drei einzelne. Dass es dann im Unterricht so gut klappte, war für mich ein ziemliches Erfolgserlebnis. Da konnte ich dann den anderen helfen.

Ich habe da einen Förderschulabschluss abgelegt und arbeite jetzt bei der Stiftung Maribondo. Da gefällt’s mir gut, und ab Sommer mache ich bei denen auch eine Ausbildung in der Gastronomie, in einem Gästehaus der Stiftung. Protokoll: Benno Schirrmeister

„Inklusion find ich super“

Luna Gross García besucht die Oberschule Am Barkhof in Bremen

Ich bin von Geburt an taub und bin Inklusionsschülerin mit 100 Prozent Schwerbehinderung. Ich habe das Glück, dass meine Eltern mich haben operieren lassen. Dank Cochlear-Implantaten kann ich also hören. Deshalb war für mich aber sehr wichtig, dass ich auf eine Halbtagsschule komme: Bei einer Ganztagsschule wäre die Hörbelastung einfach zu groß gewesen. Außerdem war es wichtig, dass die Klassen nicht so groß sind. Daher haben wir auch einen Härtefallantrag gestellt. Dieser wurde aber abgelehnt – so haben wir uns einklagen müssen.

Schule bedeutet ja immer große Hörbelastung, und wenn ich der zu lange ausgesetzt bin, bekomme ich extreme Kopfschmerzen. Damit ich gut am Unterricht teilnehmen kann, ist es wichtig, dass die Klassenräume schallgedämmt sind, außerdem muss darauf bei der Sitzordnung geachtet werden: Ich darf niemanden hinter mir haben und gleichzeitig muss ich immer vorne sitzen, damit ich alles mitkriege. Momentan ist es durch die Maskenpflicht etwas schwierig, das ist ein Nachteil, weil mir das Lippenbild fehlt.

Im Kindergarten hatte ich eine Assistenz, die mich beim Wechseln der Batterien unterstützt hat. Doch seit der Grundschule bin ich nicht mehr darauf angewiesen. Ich bin nicht so krass beeinträchtigt, dass ich im Alltag viel Hilfe benötigen würde. Inklusion finde ich super. Für mich ist sehr wichtig, auf eine Regelschule zu gehen, und nicht auf ein Förderzentrum: Ich denke, dass man dadurch leicht sozial abgeschnitten wäre, und einem die Möglichkeiten genommen werden, direkt mit Leuten zu interagieren, die andere Erfahrungen gemacht haben als man selbst.

Natürlich sind solche Einrichtungen auch für viele von großem Vorteil. Daher bin ich sehr froh, dass beide Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Protokoll: Benno Schirrmeister