meinungsstark
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„Da bin ich ganz bei Ihnen!“

„Eine Sprache für alle“, Leserbrief vom 13./14.. 2. 21

Dazu habe ich noch eine Idee, nämlich ein Phrasikon – die Floskeln in der Politiker-Alltagssprache, die für mich nur noch schwer erträglich sind, weil man geradezu darauf warten kann. Ich habe das mal aufgelistet als kleine Geschichte:

Kein Thema, ohne Zweifel. Stand heute. Da bin ich ganz bei Ihnen, wenn Sie so wollen. Aber wir müssen uns ehrlich machen, aus unserer Sicht. Also. Sozusagen. Sind wir doch also mal ehrlich. Ich sage noch einmal: Wir müssen die Menschen mitnehmen, ich sage noch einmal: ich meine die Menschen, draußen im Lande. Zur Wahrheit gehört aber auch: Wir müssen jetzt nach vorne schauen. Wir sind da ganz vorneweg unterwegs. Fakt ist aber auch aus meiner Sicht: Wir müssen das adressieren. Wir müssen weniger übereinander und mehr miteinander reden. Es geht nicht darum, beliebt zu sein. Wofür ich mich entschuldige. Wir haben uns doch entschuldigt, was wollen Sie denn noch? Ich sag mal so, ich sag das jetzt ganz ungeschützt, an dieser Stelle. Der Punkt ist: Stimmungen sind keine Stimmen, am Ende des Tages.

Das nehme ich heute mit. Tilman Rhode-Jüchtern, Jena

Krieg, Erinnerung, Anmaßung

„Die Linke und der Krieg: Pazifisten und ‚Bellizisten‘. Der Golfkrieg und der Jugoslawienkrieg waren für die Linke und das vereinte Deutschland eine Wegscheide. Dies zeigt ein Rückblick auf das Jahr 1991“, taz vom 12. 2. 21

Lieber Claus Leggewie, ja – was für ein Tag, jener 31. Januar 1991. Das mir wirklich in Erinnerung gebliebene Ereignis des Tages war eine Demonstration am Nachmittag vor dem Amerikanischen Konsulat im Westend. Ich war nur durch die Megafon-Geräusche und durch das Blaulicht der Polizeiwagen aus dem Büro gelockt worden und stand als Beobachter etwas abseits. Das tat auch eine ältere Dame, die gerade vom Einkaufen gekommen und neben einer demonstrierenden Studentin stehengeblieben war. Neugierig fragend sprach sie die Studentin an: Was sie denn hier täten? Und wogegen sie denn seien? Die Antwort fiel recht klassisch links/antiimperialistisch/antiamerikanisch aus. Die alte Dame stellte sich daraufhin als jüdische KZ-Überlebende vor, die das alles ganz anders sehe. Darauf sagte die Studentin (sinngemäß): „Aber gerade Sie als Auschwitz-Überlebende sollten doch gelernt haben, worum es in der Welt wirklich geht!“

Mein Rückweg ins Büro war mit jenem seltsamen Phänomen beschäftigt, dass eine deutsche Enkelin der mordenden Nazi-Generation einer jüdischen Überlebenden heute auch noch vorgeben will, was sie denn daraus gelernt haben sollte und gelernt haben müsste.

Es ging (und geht), wie mir scheint, nicht um Friedensbewegte und „Bellizisten“. Es geht um vollständig verwirrte Ansichten darüber, was wem warum zusteht und zukommt.

Wolfgang Klotz, Frankfurt am Main

… dann lieber sterben

„Fast 40 Jahre nach ihrem Suizid präsentiert ein Band die Gedichte von Semra Ertan: „Erst später werden sie es schätzen“, taz vom 7. 2. 21

Lieber Tarik Kemper, Ihr Artikel hat mich sehr angesprochen. Es gibt ein Lied über Semra Ertan, das ich aus dem Gedächtnis aufschreibe. Der Friedenschor Cantaré in der Kreuzkirche Bommersheim (Oberursel, Hessen) hat es in den späten 1980er Jahren gesungen, mein Vater sang damals mit:

„Sie war zu jung, um aufzugeben, zu alt, um weiter so zu leben. ‚Ausländer raus aus diesem Land!‘ schrie’s von der Wand – dann lieber sterben. Kaputt geweint, kaputt gewehrt, mit neuem Judenstern versehrt, gebrandmarkt ohnegleichen, verbrennt sie sich, setzt sie ein Zeichen. Semra Ertan Bilir, für Dich und andre singen wir, gebranntes Kind, hast Dich verbrannt von eigner Hand, in diesem Land. Semra Ertan Bilir, für Dich und andre rufen wir: Reicht euch die Hand in diesem Land, durchbrecht die Wand, durchbrecht die Wand! Sie spürt die Zukunft längst nicht mehr, Ghetto im Kopf, die Koffer leer, warten im fahlen Bahnhofsneonlicht auf ein Gesicht – dann lieber sterben.“ Ulrike Bickel, Berlin