Ein Jahr danach

Unmittelbar nach der Tat fragte die taz: Wie geht es weiter nach Hanau? Jetzt haben wir erneut nachgefragt.

Erinnerungsstätte am Hanauer Heumarkt nahe der überfallenen Shishabar Foto: Felix Schmitt

„Die Morde haben einen Ruck ausgelöst“

Foto: imago

Meine Gedanken sind heute – am ersten Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau – bei den Opfern: Bei Ferhat, Fatih, Gökhan, Kaloyan, Mercedes, Vili, Nesar, Hamza und Sedat. Und bei den Hinterbliebenen dieses menschenverachtenden Angriffs, der junge Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft in den Tod gerissen hat. Ihre Namen zu nennen ist mir wichtig, denn jede und jeder von ihnen hat eine eigene Würde, eine eigene Geschichte, ein eigenes Leben.

Ja, „Hanau“ hat viele Menschen wachgerüttelt: Dass wir ein Rassismusproblem in unserer Gesellschaft haben, wussten viele von uns schon lange, weil wir es täglich erleben – durch Anfeindungen, Hass und Hetze im Netz oder auf offener Straße, durch die vielen Meldungen von Frauen mit Kopftuch, die angegriffen werden, durch Diskriminierung bei der Wohnungssuche, im Job, im Alltag. Das hat sich nicht verändert in den letzten zwölf Monaten.

Und dennoch: Die Morde von Hanau haben einen Ruck ausgelöst. In der Trauer um die Ermordeten, in der Wut auf diese unfassbaren Taten sind die Menschen in Hanau zusammengerückt. Und vor allem wird endlich nicht mehr verschwiegen, dass wir ein Rassismusproblem haben. In der Politik sehen wir mehr denn je die Notwendigkeit, dass ein „Weiter so“ keine Option ist. Ein neuer Ausschuss des Bundeskabinetts setzt konkrete Maßnahmen gegen Rassismus auf die Tagesordnung. Das Thema antimuslimischer Rassismus steht heute auf der politischen Agenda. Das war früher nicht so. Es ist gut, dass der Verfassungsschutz eine neue Entschlossenheit im Kampf gegen Rechtsextremismus zeigt. Der Berliner Innensenator hat zudem gemeinsam mit den Kollegen aus den anderen Bundesländern zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus entwickelt. Das sind wichtige Signale, die Mut machen.

Es bleibt aber noch viel zu tun. Das zeigen die jetzt im Spiegel anlässlich des Jahrestags von Hanau dokumentierten Gespräche mit den Angehörigen. Das macht traurig, wütend und es tut weh. Das Gedenken darf nicht zum folgenlosen Ritual werden! Und ich hoffe, dass dies noch mehr Menschen zum Engagement motiviert.

Eine Gesellschaft, die allen gleiche Teilhabechancen eröffnet, unabhängig von Sprache oder Herkunft – eine solche Gesellschaft kommt nicht von selbst. Wir müssen sie immer wieder von Neuem erkämpfen. Und „wir“ heißt wirklich: Wir alle gemeinsam!

Sawsan Chebli ist Staats­sekretärin in der Berliner Staats­kanzlei

„Seit Hanau hat sich etwas verändert“

Nach dem Anschlag in Hanau habe ich eine unmittelbare Betroffenheit erlebt, die wirklich überwältigend war. Sehr viele Menschen, die bis dahin nichts mit dem Thema Rassismus zu tun hatten, waren wirklich schockiert. Die Politik hat nicht so schnell reagiert. Auch da gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen, aber konkrete Maßnahmen blieben erst einmal aus. Wir sind ja eng an den Familien dran, begleiten etwa die Mutter des erschossenen Ferhat Unvar bei ihrer neu gegründeten Bildungsinitiative. Und da gab es berechtigterweise großen Unmut, weil manche Hilfen anfangs nicht oder nur sehr bürokratisch kamen.

Zuletzt aber ist zumindest der Bund aktiv geworden. Der Kabinettsausschuss der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus hat – zum allerersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – ein umfassendes Maßnahmenpaket vorgelegt. Das hat mich positiv überrascht.

In Hessen ist man da, wie immer, etwas langsamer. Dabei gab es hier mit den NSU-2.0-Drohschreiben weitere rassistische Vorfälle. Da muss die hessische Politik jetzt aufholen, etwa mit einem Rechtsterrorismus-Opferfonds für die Betroffenen des Hanau-Anschlags und andere Betroffene rechter Attacken. Kein Bundesland hatte zuletzt so viele Todesopfer rechtsextremer Gewalt zu beklagen wie Hessen. Hier muss die Landesregierung endlich Verantwortung übernehmen.

Die Welle der Betroffenheit nach Hanau ist schnell abgeebbt, vielleicht auch naturgemäß, einen Monat später erreichte uns ja Corona. Insgesamt habe ich aber das Gefühl, dass sich seit Hanau etwas verändert hat: Das Verständnis in diesem Land, dass Rassismus ein echtes Problem ist, ist stärker geworden. So vehement wie zuletzt über die rassistischen Ausfälle in einem WDR-Talk diskutiert wurde, das hätte es früher nicht gegeben. Das sind wichtige Debatten. Diese Sensibilisierung dürfte auch mit Hanau zusammenhängen.

Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank

„Gedenken als eine Show für die Presse“

Was sich seit Hanau getan hat? Nicht viel. Natürlich hat es auch mit Corona zu tun, aber momentan beschäftigt sich die Politik doch mit Rassismus an letzter Stelle. Man sieht es am Umgang mit dem Gedenken. Als die Angehörigen und Freunde ein halbes Jahr nach dem Anschlag in Hanau demonstrieren wollten, wurde das kurzfristig abgesagt. Dabei gab es ein Hygienekonzept, alles war eingereicht. Und selbst unsere kleine Gedenkveranstaltung in Hamburg mit zehn Leuten – ebenfalls abgesagt. Es hieß, nur notwendige Veranstaltungen sind erlaubt. Ist das Gedenken nicht notwendig? Natürlich ist es das. Ich glaube, da wurde die Pandemie nur vorgeschoben.

Das hat ein Schema in Deutschland. Wenn die Politik Gedenken abhält, werden die Familien kaum einbezogen. Man will zeigen, dass man etwas unternimmt, es tut uns leid, aber das ist nur Show für die Presse. Die Betroffenen dürfen sich da einfügen. Der Umgang mit dem Brandanschlag von Mölln 1992 ist das beste Beispiel: Da gibt es inzwischen zwei Gedenken: eines von der Stadt und eines von den Angehörigen.

Als ich nach dem Anschlag in Hanau auf der Bühne gesprochen und Deutschland vorgeworfen habe, beim Thema Rassismus zu versagen, habe ich danach so viele Drohungen bekommen, dass ich meine Social-Media-Profile bis heute deaktivieren musste. Das war wirklich extrem. Und das sagt doch schon alles. Wenn es hier nicht mal möglich ist, Rassismus zu benennen, dann läuft richtig etwas schief. Diese Anschläge passieren in eurem Land, es gehört zu eurer Geschichte. Wir integrieren uns, weil ihr das verlangt. Also tut es auch, befasst euch mit eurer beschämenden Geschichte und lernt aus unseren Erlebnissen, die durch euer Vaterland entstanden sind.

Candan Özer Yılmaz ist die Witwe von Atilla Özer, der 2004 beim Nagelbombenanschlag des NSU in einem Friseurladen in der Kölner Keupstraße schwer verletzt wurde. Er starb im Jahr 2017 an den Spätfolgen

„Ich umarme mein Kind und weiß, dass sie ihre Kinder nicht mehr umarmen können“

„Herzlich willkommen in Hessen“ und manchmal auch „An Hessen führt kein Weg vorbei“ steht auf den Schildern, wenn Sie die Landesgrenze zum Bundesland Hessen auf der Autobahn überqueren.

Woran denken Sie da? Denken Sie in jüngster Zeit auch an den Mord an Walter Lübcke, den Mordversuch an einem Flüchtling oder die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau?

Den Namen von Walter Lübcke kennt jeder in Deutschland, aber kennen Sie den Namen zumindest eines von neun Opfer in Hanau? Wissen Sie wie alt sie waren und welchen Beruf sie ausgeübt haben?

Ich vertrete Angehörige von drei Opfern (Familie Saraçoğlu, Gültekin und Gürbüz) in Hanau. Die Traurigkeit und Wut dieser Menschen machen zutiefst betroffen.

Auch ein Jahr nach der Tat fließen sehr viele Tränen und man steht dem machtlos gegenüber. Die Welt wird seit einem Jahr von der Pandemie beherrscht. Der Anschlag in Hanau ist aus der öffentlichen Wahrnehmung fast verschwunden.

Das ist bitter für die Angehörigen.

Ich spreche oft mit den Familien der Opfer. Zu Hause angekommen umarme ich meine eigenen Angehörigen und bin dankbar dafür, dass es ihnen gut geht. Ich denke oft an die Worte der Mutter des in Hanau getöteten Sedat Gürbüz, dass der Friedhof ihr Wohnzimmer geworden ist. Ich denke oft an die Worte des Vaters von Hamza Kurtović:„Er sollte mich begraben, nicht ich ihn.“

Ich umarme mein Kind erneut und denke daran, dass sie ihre ­Kinder nicht mehr umarmen können.

Es gibt keinen Trost für das, was diesen Menschen angetan wurde.

Einen Tag vor dem rassistischen Anschlag in Hanau am 18. Februar 2020 sagte der hessische Innenminister Peter Beuth in seiner Regierungserklärung, dass Hessen ein sicheres Bundesland sei. Sicher für wen, fragte ich mich schon damals.

Sein besonderer Dank und seine volle Solidarität – so Innenminister Beuth – gehe dabei an die Polizei und Sicherheitsbehörden.

Danke auch von uns dafür, dass ein psychisch kranker und polizeibekannter Deutscher mit einer rassistischen Weltanschauung eine Waffenbesitzkarte erhalten durfte.

Danke dafür, dass der Notruf in der Tatnacht nicht ordnungsgemäß besetzt war.

Danke dafür, dass die Sicherheitsbehörden einmal mehr versagt haben.

Danke dafür, dass es keine Aufarbeitung und Aufklärung gibt.

Danke auch dafür, dass all das auch ein Jahr später keine Konsequenzen für niemanden hat.

Herzlich willkommen in Hessen. An Hessen führt (k)ein Weg vorbei.

Seda Başay-Yildiz, NSU-Neben­klageanwältin, Frankfurt am Main

„Weißen Terror frühzeitig erkennen statt Schikanen gegen People of Color“

Es wird nie wieder gut. Nichts macht diesen plötzlichen Abbruch des Lebens rückgängig; nichts nimmt den Angehörigen ihren Schmerz, kein Gedenken, keine politische Maßnahme.

Die Politik sowie die Gesellschaft tragen Verantwortung, es den Menschen, die in Trauer sind, nicht schwerer zu machen und mit der Tradition rassistischer Trauerverweigerung zu brechen.

Die Perspektive der Angehörigen muss primäre Instanz sein, was sie sagen muss als Erstes zählen. Weshalb gibt es keine wirksame Beschwerdestelle auf höchster Regierungsebene, an die sie sich wenden können?

Laut Deutschlandfunk laufen Anfragen der Familie Kurtović an die örtliche Polizei ins Leere. Das darf nicht sein: In diesem Land ist ein weiterer rassistischer Terroranschlag vollzogen worden; wenn sich Staat und Gesellschaft dagegen positionieren wollen, müssen sie dafür Sorge tragen, dass die Betroffenen nicht in Warteschleifen gehalten, sondern gehört werden. Sofort.

Und die ausbleibende Reformierung der Sicherheitsbehörden? Nach Angaben von Migazin hat die Polizei den Notausgang der Shishabar verriegeln lassen, damit bei Polizeikontrollen niemand fliehen kann – so gefährlich ist Racial Profiling. Eingedenk der Menschen, die ihr Leben verloren haben, darf in Hanau – und auch sonst nirgendwo – auch nicht ein Mensch jemals mehr aufgrund des rassistischen Blicks der Behörden kontrolliert werden. Eine Umkehr ist notwendig, nämlich weißen Terrorismus frühzeitig zu erkennen. Anstatt People of Color mit Polizeikontrollen zu schikanieren und ihnen den Schutz zu nehmen, während ein angekündigter Anschlag ignoriert wird.

Deniz Utlu ist Schriftsteller in Berlin

„Ehrliche Anteilnahme drückt sich in Taten aus“

Fotos: privat, dpa, picture alliance

Die Initiative 19. Februar Hanau fordert einen Rechtsterrorismus-Opferfonds in Hessen, der die Angehörigen angemessen und unbürokratisch finanziell entlastet. Sie fordert zudem die Sicherheitsbehörden auf, den Anschlag lückenlos aufzuklären.

Es macht mich fassungslos, wenn ich lese, dass Hinterbliebene um so etwas betteln müssen, das selbstverständlich sein sollte. Auch macht es mich fassungslos, wie Polizei und Behörden mit den Angehörigen und Opfern umgegangen sind.

Ein Jahr nach Hanau sind immer noch viele Fragen offen. Warum wurden diese Morde nicht verhindert? War der Täter wirklich für mehrere Gefechtstrainings in der Slowakei, ohne dass die Sicherheitsbehörden etwas davon mitbekamen? Was wird die Politik heute noch konkret tun, um die rechtsterroristischen Anschläge von morgen zu verhindern? Wann werden die Sicherheitsbehörden endlich entnazifiziert? Wann geht man konsequent gegen rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr vor?

Der Terroranschlag in Hanau war weder ein Einzelfall noch war der Täter ein Einzeltäter. Die Amadeu Antonio Stiftung geht von mindestens 213 Todesopfern rechter Gewalt in Deutschland seit 1990 aus. Jeder einzelne dieser Morde hätte eine Zäsur sein müssen, ein politisches Umdenken im Kampf gegen Rechtsterrorismus auslösen müssen, ein gesamtgesellschaftliches Bekenntnis zum Antifaschismus.

Sonntagsreden werden die Rechtsterroristen nicht aufhalten. Beileidsbekundungen reichen nicht. Ehrliche Anteilnahme drückt sich in Taten aus.

Ronya Othmann ist Autorin in München