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: Das Business meines Opas

Mein Sohn hat neue Schuhe. Blaue Sneakers. Er hält sie mir gleich unter die Nase, als er damit nach Hause kommt. Mit neuen Schuhen nach Hause? Sind nicht alle Geschäfte coronabedingt geschlossen? Seit Beginn der Pandemie steigt die Zahl der „Zu-verschenken-­Kisten“ in unserem Stadtteil ungefähr so exponentiell an wie die der Coronaneuinfektionen im Herbst. Manchmal steht vor jedem dritten Haus eine. Mein Teenager kleidet sich mittlerweile fast komplett mit Straßenfunden ein. Aktuell im Vintage Style mit braunen Rollkragenpullis und Schlaghosen. ­Außerdem findet er Schallplatten, Bücher und Filme. Und auch sonst noch so allerlei Brauch­bares.

Mich erinnert das an die Sperrmülltage meiner dörflichen 70er-Jahre-Kindheit. Viermal im Jahr wurde abgeholt, was die Menschen nicht mehr brauchten. Am Abend stellte man die Dinge an die Straße, am nächsten Vormittag kam ein großer Müllwagen und sammelte alles ein.

Mein Großvater fuhr dann in der Abenddämmerung mit dem Fahrrad die Straßen ab und sichtete die Bestände. Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang zog er mit einer Schubkarre los und lud ein, was ihm brauchbar erschien: Kleinmöbel, Bretter, Fenster und Ähnliches. Da­raus baute er das ganze Jahr über Vogelhäuser für die Winterfütterung.

Im Laufe der Jahre wurden diese Häuser immer kunstvoller. Es gab sie in verschiedenen Größen. Einige hatten Reetdächer, andere waren mit Holzschindeln gedeckt. Manche waren im Stil niedersächsischer Bauernhäuser mit handgeschnitzten Pferdeköpfen verziert. Andere hatten halbrunde Dachfenster inklusive Fensterbank. Es waren lauter kleine Kunstwerke. Im Winter kamen die Menschen zum Teil von weit her aus den Städten und in großen teuren Autos, um in dem immer verrauchten, dreckigen Arbeitskeller meines Großvaters solche Häuser für ihre Vorgärten auszusuchen. Die einfachen kosteten 80 D-Mark, die teuersten 400. Das Material stammte fast komplett von der Straße. Opa kaufte nur Nägel, Holzleim und die Strohmatten für die Dächer dazu.

Von den Erlösen wurden dann die Weihnachtsgeschenke finanziert. Der Rest kam in die Haushaltskasse. Und einiges zweigte er für Eis und Zigaretten ab, die er, sehr zum Missfallen meiner Großmutter, in großen Mengen konsumierte.

Manchmal nahm er mich mit auf seine Rundgänge. Meine Eltern waren vehement dagegen. Sie fanden es schlimm, den Müll fremder Menschen mit nach Hause zu bringen. Meine Funde verwahrte ich deshalb in einer Abstellkammer bei meinen Großeltern.

Es muss an diesen Kindheitserfahrungen liegen, dass ich an keiner Verschenkekiste vorbeifahren kann, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Wenn ich etwas Gutes entdecke, das ich nicht selber brauche, verkaufe ich es weiter. Markenklamotten, teure Schuhe, aktuelle neuwertige Bücher – das alles geht über Onlinekleinanzeigen immer super weg. Den Zwischenschritt – etwas Neues aus den Sachen ­herzustellen – spare ich mir bislang.

Ich überlege mit fortschreitendem Pandemiefrust, ob ich meinem Sohn vom Business meines Opas erzählen soll. Dann könnte er sich kreativ und gleichzeitig gewinnbringend betätigen: Wir könnten ausgewaschene Klamotten neu einfärben und alte Möbel aufarbeiten. Und im Sommer damit auf dem Flohmarkt stehen. Falls die Coronasituation es zulässt.

Gaby Coldewey