Die Schonfrist für Blair ist vorbei

Eine Analyse führender britischer Wissenschaftler zieht eine Verbindung zwischen dem Terrorismus und dem Irakkrieg. In der Presse wird unterdessen spekuliert, ob es sich bei den Anschlägen in London wirklich um Selbstmordattentate gehandelt hat

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

Waren es vielleicht doch keine Selbstmordattentate? In der britischen Presse wird spekuliert, dass die vier jungen Männer, die am 7. Juli in London drei U-Bahnen und einen Bus sprengten, gar nicht vorhatten, sich dabei selbst zu töten. „Sie waren das schwächste Glied“, sagte ein namentlich nicht genannter Informant aus Sicherheitskreisen zum Daily Mirror. „Wir halten es für möglich, dass man ihnen gesagt hat, sie haben noch ein wenig Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen, nachdem sie den Knopf gedrückt hatten, um den Zeitzünder einzuschalten. Statt dessen explodierten die Bomben sofort.“

Dafür spricht, dass alle vier Ausweise, Kreditkarten oder Führerscheine bei sich hatten, wodurch man sie schnell identifizieren konnte. Außerdem hatten sie im Bahnhof Luton für die Fahrt nach King's Cross Rückfahrkarten gelöst und für die beiden Autos, die sie in Luton abgestellt hatten, Parkscheine gekauft. Ein Sprecher von Scotland Yard räumte ein, dass die Polizei nie von Selbstmordattentätern gesprochen habe.

Wie dem auch sei – für Premierminister Tony Blair ist die Schonfrist vorbei. „Chatham House“, das frühere „Königliche Institut für internationale Angelegenheiten“, legte am Sonntag eine Analyse vor, die Blair nicht gelegen kommt. Die aus führenden Akademikern und ehemaligen Staatsbeamten bestehende Organisation argumentiert, das größte Problem für die Verhinderung von Terrorismus in Großbritannien sei die Tatsache, dass das Land „beim Krieg gegen den Terror als Rücksitzpassagier der USA“ reise, denn über die politischen Initiativen werde stets in Washington entschieden. „Es gibt keinen Zweifel“, schreiben die Autoren, „dass die Invasion des Irak dem Al-Qaida-Netzwerk Auftrieb bei der Propaganda, der Rekrutierung und der Finanzierung gegeben hat.“ Blair hatte dagegen darauf beharrt, dass die Terroristen von einer „Ideologie des Bösen“ getrieben werden. Zu glauben, man könne sein eigenes Verhalten verändern, damit sie ihres verändern, sei ein „Irrtum vom katastrophaler Größenordnung“, sagte Blair.

Die britische Regierung hat eine Madrasa, eine Koranschule bei Lahore, als Ort ausgemacht, wo mindestens zwei der Londoner Attentäter einer „Gehirnwäsche“ unterzogen worden seien. Der pakistanische UN-Botschafter Munir Akram wies das vorgestern mit ungewöhnlicher Schärfe zurück. „Man kann die Schuld nicht woanders suchen, wenn es ein internes Problem ist“, sagte er in einem Interview mit der BBC. „Eure Politik im Nahen Osten, eure Politik in der islamischen Welt – das ist das Problem eurer Gesellschaft, und darin liegt auch das Problem mit den Anschlägen.“

Drei der Attentäter stammten aus pakistanischen Einwandererfamilien, der vierte war in Jamaika geboren. Es war aber ihr Leben in Großbritannien, das sie zu Attentätern gemacht habe, sagte Akram und fügte hinzu: „Die vier britischen Jungs sind nicht zu Attentätern geworden, weil in ihren Adern pakistanisches Blut fließt.“