berliner szenen
: Ein inniges Gefühl für Schnee

Schöner Busen, schma­le Taille, bauschiger bodenlanger Rock. Nur der Kopf sieht aus wie beim klassischen Vorbild: kugelrund, mit einer Möhre im Gesicht. Neben der Schneefrau steht ein Topf, auch aus Schnee. Was er bedeutet, ist vom Fenster aus nicht zu erkennen.

Die Schneefrau macht gute Laune. Die meisten Passanten bleiben stehen, freuen sich, viele fotografieren. Bestimmt werden gerade lauter Instagram-Fotos hochgeladen.

Drei Kinder kommen vorbei, sicher sind es Geschwister, so ähnlich, wie sie sich sehen. Die beiden größeren Mädchen wollen den Kleinen zu einer Schneeballschlacht bewegen, aber der schmollt, er hat Angst vor den Wurfgeschossen. Sie lachen ihn aus, erst als sich sein Gesicht zum Weinen verzieht, geben sie auf. Plötzlich entdeckt der Kleine die Schneefrau, bleibt stehen und bewundert sie. Die großen Schwestern wollen weiter, aber er zieht in aller Ruhe seine Handschuhe aus und streicht der Schneefrau über die Hüften. Er glättet den Schnee an ihrem Bauch und sieht vergnügt aus. Die großen kichern und können ihn nur mit Mühe vom Fleck bewegen.

Die Schneefrau bleibt nicht lange allein. Ein junges Paar lacht sie an. Der Mann stellt zwei schwere Werkzeugkoffer ab und macht sich an dem Schneetopf zu schaffen. Mittlerweile hat die Sonne freigelegt, was er birgt: ein rotes Grablicht, wie es an Gedenkorten abgestellt wird. Wenn es noch etwas taut, wird es umfallen.

Wie vorher der kleine Junge zieht der Mann die Handschuhe aus. Mit Liebe zum Detail schichtet er ringsum einen kleinen Wall auf und baut eine neue Schneekuhle für das Licht. Vielleicht hätte er es gerne gemacht wie der Junge und jetzt noch die Hüften der Schneefrau berührt. So entschlossen, wie seine Freundin ihn wegzieht, könnte auch sie so ein Gefühl gehabt haben.

Claudia Ingenhoven