Geht die Räumung in Ordnung?

Polizei, Bagger, eiskalter Winter und offene Fragen: Das Obdachlosencamp an der Rummelsburger Bucht ist geräumt. Ein Pro und Contra

Am Tag der Räumung: Sympathisanten besetzen einen Bagger, der den Behausungen der Obdachlosen im Camp an der Rummelsburger Bucht zu Leibe rückt Foto: Christian Mang

ja,

sagt Bert Schulz

Die Wettervorhersagen waren eindeutig in ihrer fast apokalyptischen Prognose: Schnee, eisiger Wind, Temperaturen im zweistelligen Minusbereich waren für das vergangene Wochenende vorhergesagt. Jede PolitikerIn, die zuständig für das Wohlergehen obdachloser Menschen ist, muss angesichts solcher Vorhersagen kalte Füße kriegen. Und handeln. Vor diesem Hintergrund war die Räumung des Obdachlosencamps in der Rummelsburger Bucht am Freitagabend durch den Bezirk Lichtenberg notwendig und sinnvoll. Schließlich geht es um Menschenleben, in diesem Fall um das Bewahren vor dem elenden und völlig sinnlosen Tod durch Erfrieren.

Wie liefe die Debatte aktuell denn, wenn tatsächlich ein, zwei, vielleicht auch fünf oder noch mehr Menschen diesen harten Wintereinbruch in ihren Bretterbuden und Zelten in dem Camp nicht überlebt hätten? Es wäre vom Versagen der Politik die Rede, von völlig absehbaren Folgen durch die Kälte, vielleicht auch von falschem Humanismus und Angst der PolitikerInnen, sichtbare Herausforderungen direkt vor ihrer Haustür anzugehen.

Natürlich sollen Menschen in dieser Stadt möglichst so leben können, wie sie wollen, selbstbestimmt, selbstorganisiert, unabhängig von ihrer Lage. Und bekanntermaßen ist es oft schwierig, Menschen, die schon lange auf der Straße leben, zu überzeugen, für ein paar Tage oder Wochen zumindest nachts in eine Unterkunft zu gehen, bis die äußeren Umstände ein Leben auf der Straße wieder möglich machen. Vielleicht hätte man damit im Falle des Camps an der Rummelsburger Bucht auch schon früher anfangen können.

Aber manchmal muss Politik einfach schnell agieren, ohne lange Vorlauffristen, schlicht weil das Ziel wichtiger ist als der Weg dorthin. Diese Situation am Freitagabend war so eine, sie war existenziell. Und viele Menschen aus der Rummelsburger Bucht haben die Hilfe angenommen.

Am Ende der Saison der Kältehilfe in knapp zwei Monaten wird wieder gezählt – und zwar vor allem, wie viele Menschen im Winter auf der Straße gestorben sind. Jede und jeder Tote ist eine/r zu viel, heißt es dann für gewöhnlich und völlig korrekt. Diese Zahl möglichst bei null zu halten, muss das Ziel politischen Handelns sein, und dafür stehen auch die jüngsten Anstrengungen der Sozialverwaltung, das Angebot an Notunterkünften auszubauen und Obdachlosigkeit prinzipiell perspektivisch zu beenden.

Ganz nebenbei symbolisiert der Einsatz auch: Wir lassen euch da draußen nicht allein.

nein,

sagt Timm Kühn

Das Camp in der Rummelsburger Bucht war ein selbstverwaltetes Zuhause für fast 100 Menschen – es ist nun unwiderruflich zerstört. Dies wurde vom Bezirk mit dem Verweis auf eine humanitäre Notwendigkeit gerechtfertigt: Schließlich erreichten die Minusgrade dieses Wochenende den zweistelligen Bereich. Um Kältetote zu vermeiden, sei kein anderes Vorgehen möglich gewesen.

Ein zweiter Blick auf die Räumung legt entweder Inkompetenz nahe – oder dass die Kälte als Anlass genommen wurde, ein drängendes Problem zu lösen: Denn auf dem Areal soll die Touristenattraktion „Coral World“ entstehen. Die Obdachlosen mussten also ohnehin weg – gab die Kälte hierfür etwa den idealen Anlass?

Mindestens war das Vorgehen des Bezirks denkbar unklug. Denn dass rund die Hälfte der Be­woh­ne­r:in­nen Ersatzangebote ausschlagen würden, war erwartbar. So blieben laut Senatsverwaltung für Soziales letzte Januarwoche 121 der angebotenen 1.090 Notunterkunftsplätze leer – und das bei 11.000 obdachlosen Berliner:innen, wie die Caritas und das Diakonische Werk schätzen. Manch ei­ne:r bevorzugt eben die Straße gegenüber den Unterkünften, wo Abstände nicht eingehalten werden können, wo Tiere und Substanzen verboten sind, wo gestritten und geklaut wird, kurz: wo autonomes Leben unmöglich ist.

Diese Menschen sitzen nun ohne jede Hilfsinfrastruktur auf der Straße – bei ebenjenen Minusgraden, vor denen der Bezirk sie doch beschützen wollte. Bestimmt hätten die Campbe­woh­ne­r:in­nen schon im Herbst darüber Auskunft gegeben, was sie benötigen, um durch den Winter zu kommen – und der Bezirk hätte es liefern können, wäre es wirklich um bestmögliche Unterstützung gegangen.

Stattdessen standen Bagger bereit, um Behausungen und Eigentum der Be­woh­ne­r:in­nen zu beseitigen, sobald dies möglich wurde. Auf Twitter ist zu sehen, wie Hab und Gut ei­nes Bewohnen­den zerstört wird. Es ist wohl Protestierenden zu verdanken, dass nicht noch Freitagnacht alles dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Sicher wird die Kälte eine Rolle bei der Räumungsentscheidung gespielt haben. Aber das Bezirksamt Lichtenberg wird sich die Frage gefallen lassen müssen, ob es die Rolle eines Vorwands war. Also nein, die Räumung war nicht gerechtfertigt. Die kommerziellen Interessen eines Bauprojekts scheinen gegenüber dem Recht obdachloser Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben bevorzugt worden zu sein. Rot-Rot-Grün sollte es wirklich besser wissen.