Kein Wunder

ERFOLG Als Totilas für zehn Millionen Euro verkauft wird, ist es das teuerste Dressurpferd der Welt. Bei Olympia sollte es zusammen mit seinem neuen Reiter Gold holen. Die Marketingmaschine läuft, die Fan-Shirts sind gedruckt: Aber das Paar tritt nicht an. Wie der Zufall einen perfekten Plan durchkreuzt

■ Dressurpferd: Totilas’ Vorgänger hieß Donnerhall. Er war mit 65 Grand-Prix-Titeln einer der weltweit erfolgreichsten Dressurhengste und begehrt bei Züchtern. 250 seiner Nachkommen sind im Leistungssport aktiv.

■ Springpferd: Halla war eigentlich eine Außenseiterin: langsam und von schwierigem Gemüt. Dennoch wurde sie zur Legende: Sie trug Hans Günter Winkler 1956 fehlerfrei durch den Olympia-Parcours, obwohl sich Winkler einen Muskel gerissen hatte. Er schrie bei jedem Sprung auf und fiel fast vom Sattel, wurde aber Olympiasieger.

■ Rennpferd: Seabiscuit fraß zu viel und hatte krumme Füße. Trotzdem wurde das Vollblut aus den USA zum erfolgreichsten Rennpferd seiner Zeit. Man erzählt sich, dass das Pferd 1938, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, häufiger in den Zeitungen erwähnt wurde als Hitler oder Roosevelt.

AUS AACHEN UND KRONBERG CAROLIN PIRICH

Kündigt sich so das Ende einer Geschichte an, die wie ein Märchen begonnen hat? Mit bedruckten Fan-Tassen im Sonderangebot? Mit Shirts zum halben Preis, auf denen rotsamten „Totilas“ über der Brust steht und in Gold darunter: „My Number One“?

Die junge Frau im Fanshop holt einen runden Aufkleber unter der Kasse hervor. Heute sei viel los gewesen, sagt sie. 400 Sticker habe sie verteilt an die Schulklassen, die ins Zelt strömten und „Oh, das ist ja Totilas“ flöteten. Auf dem Aufkleber steht ein Pferd, dessen Fell schwarz glänzt und das die Ohren aufmerksam spitzt: zwei Weltrekorde, drei Weltmeistertitel, zwölf Jahre alt, im besten Alter und ein Star unter den Dressurpferden. Der einzige Hengst mit eigener Modekollektion und eigener Internetseite, auf der ein Pressesprecher im Namen des Pferdes bloggt.

Der Fanshop liegt im Sportpark in Aachen zwischen anderen weißen Zelten, von oben sehen sie aus wie ein Meer von Sahnebaisers. Man kann Stiefel und Reithelme kaufen, Champagner trinken, Sushi essen und sich die Schuhe putzen lassen. Eine Welt, die Schönheit preist und Erfolg schätzt.

An diesem Mittag bleibt die junge Frau mit ihrem offenen Lächeln allein in der Zeltwärme. Ein Ventilator brummt. Sie hat ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trägt auch eines dieser T-Shirts, eng, schwarz, rot und golden. Totilas, my number one. „Der bringt was rüber bei den Menschen“, sagt sie. „Ich kann’s Ihnen gar nicht beschreiben, aber Totilas hat eine ganz starke Ausstrahlung.“ Seine Piaffen, Pirouetten und Passagen. „Der ist grazil, und trotzdem strotzen seine Bewegungen vor Kraft.“

Aber das teuerste Dressurpferd der Welt, es wird nicht antreten bei Olympia.

Vor ein paar Wochen stand die Nachricht in den Zeitungen, Pfeiffersches Drüsenfieber, ein unberechenbares Virus. Man kann bald wieder auf den Beinen sein. Oder man muss über Wochen ausruhen, wie Matthias Rath. Der Reiter von Totilas.

Ausgerechnet Totilas fehlt nun beim letzten Reitturnier vor Olympia, dem berühmten Chio in Aachen, dem größten deutschen Reitwettkampf. Im Jahr davor hat man seinetwegen das Stadion abriegeln müssen, wegen des Besucherandrangs.

Wenn in einer Woche die Sportler ins Olympiastadion in London einlaufen und sich der Welt vorstellen, wird Totilas in seiner Box auf dem Gestüt Schafhof im Taunus stehen, und Matthias Rath wird vor dem Fernseher sitzen. Er wird nicht den Applaus von 80.000 Menschen hören. Er wird nicht da sein, wo er hätte sein sollen: als einer der deutschen Olympioniken auf einem der besten Dressurpferde, die es je gegeben hat.

Pferde sind die einzigen Tiere, die bei den Olympischen Spielen antreten, in einem harmonischen Duo mit ihren Reitern. Jetzt kann das teuerste Dressurpferd der Welt nicht dabei sein, weil sein Reiter ausfällt. Das mag Sportlerpech sein: Vor dem Auftritt, auf den Mensch und Tier lange hingearbeitet haben, wird ein Teil des Gespannes krank. Vielleicht aber erzählt die Geschichte von Matthias Rath und Totilas auch von etwas anderem. Wer sie über mehrere Monate begleitet, erfährt von den Mechanismen einer Branche, die einen Erfolg perfekt planen wollte. Vielleicht zu perfekt.

Die Damen tragen bei Reitturnieren pastellfarbene Hüte, die Reiter und Reiterinnen Frack und Zylinder und Namen, die nach altem Adel klingen: In Aachen tritt Nathalie zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg auf Digby für Dänemark an; Maria von Essen auf Ferdi für Schweden. Die Welt der Dressurreiter ist eine Welt, die an Erfolg gewöhnt ist, zumindest wenn man ihn an Geld misst. Man wird in sie hineingeboren und wächst in ihr auf. Oft wird sie einem weitergegeben wie eine Tradition, selten wird etwas dem Zufall überlassen und schon gar nicht allein dem Talent.

Totilas. Seinen Stammbaum kann man bis in die Urgroßelterngeneration nachverfolgen. Mutter Lominka, Vater Gribaldi, aufgewachsen auf dem niederländischen Gestüt Moorland. Ein Hengst, schön wie gemalt: muskulös mit seidig-schwarzem Fell und einem weißen Stern auf der Stirn. Totilas, so hieß auch ein König der Ostgoten, dem es 546 nach Christus gelang, Rom zurückzuerobern, wenn auch nur für kurze Zeit. Totilas, der Gotenkönig. Kein schlechter Name für einen Sieger.

Matthias Rath sagt, er hat laut auflachen müssen vor Glück, als er sich das erste Mal auf Totilas’ Rücken setzte. Rath ist ein sympathischer junger Mann, 27 Jahre, mit hellblondem Haar und schmaler Reiterfigur. Seine Wangen sind meist gerötet, sodass man nicht genau sagen kann, ob er aufgeregt ist oder ob das einfach von der frischen Luft kommt. Anfang Juni sitzt er zu Hause auf dem Schafhof im Taunus auf einem holzgeschnitzten Stuhl, es geht es ihm noch gut. Er wirkt nur etwas müde.

Rath flüstert „Toto“, wenn er ihm nach einem Turnier anerkennend auf den muskulösen Hals klopft. Toto, das klingt vertraut. Nach Freundschaft.

Matthias Rath sitzt zum ersten Mal auf dem Rücken eines Pferdes, da ist er ein Jahr alt. Sein Vater bildet Dressurpferde aus und trainiert Reiter. Die Mutter fotografiert Pferde. Der Onkel gewinnt Bronze in Seoul. Als der Vater später Ann Kathrin Linsenhoff heiratet, kommt nicht nur eine weitere Olympiasiegerin ins Leben des jungen Matthias Rath, es kommen auch einige sehr gute Pferde, die zu Linsenhoffs Gestüt gehören, und das Geld, das man im Dressursport auch immer braucht.

Matthias Alexander Rath wurde in eine Pferdefamilie geboren, so wie die meisten professionellen Musiker in eine Musikerfamilie geboren wurden, und er wuchs mit Pferden auf, wie ein Musiker mit seinem Instrument groß wird. Er hat zwar auch Wirtschaftswissenschaften studiert. Aber Matthias Rath wollte immer auf einem Pferd sitzen.

Anfang Juni, es sind noch knapp zwei Monate bis zu den Olympischen Spielen. Matthias Rath empfängt in einem riesigen Saal bei Wasser und Keksen einen Reporter nach dem anderen.

Die Fensterflügel stehen auf beiden Seiten offen, man hört Hufe über das Kopfsteinpflaster klappern, irgendwo plätschert ein Brunnen. Auf dem Gestüt trainiert Matthias Rath, hier leben sein Vater und seine Stiefmutter. Erst seit ein paar Monaten lebt Matthias Rath mit seiner Freundin im Nachbarort.

Die Reporter interessieren sich nur für seinen Partner, für Totilas. Von Anfang an stand der Hengst im Mittelpunkt, nicht der damals noch recht unbekannte Reiter. „Da darf man sich nichts vormachen“, sagt Matthias Rath.

Mit großen Worten hält er sich meist zurück. Lieblingsmusik: „Charts und Klassiker“. Lieblingsessen: „Pizza Salami“. Lieblingsgetränk: „Apfelsaftschorle“. Aber über Totilas sagt Matthias Rath: „Ein solches Pferd trifft man nur einmal im Leben.“

Der niederländische Reiter Edward Gal hat Totilas ausgebildet. Die drei Weltmeistertitel, die zwei Weltrekorde stammen aus ihrer gemeinsamen Zeit. Es fehlt den beiden nur noch die Teilnahme bei Olympia. Gold gilt ihnen als sicher. Aber dann bietet Paul Schockemöhle, der wichtigste Züchter Europas, für Totilas. Zehn Millionen Euro soll er den holländischen Besitzern 2010 bezahlt haben. Den Preis hat er nie bestätigt, aber auch nicht dementiert. Eine solche Summe garantiert Aufmerksamkeit: Totilas ist nun das teuerste Pferd, das es im Dressur- und Springreiten je gegeben hat. Er ist der erste Star, dessen Namen man auch außerhalb von Reitplätzen und Fachzeitschriften kennt.

Pferd und Reiter wachsen über Jahre zusammen. Sie müssen sich nicht nur kennenlernen, ihre Charaktere müssen auch zueinanderpassen. Es gibt fleißige Pferde, die gern lernen. Andere sind übermotiviert, die muss der Reiter bremsen, wieder andere sind schwerblütiger, die brauchen einen eher temperamentvollen Reiter. Wenn ein Pferd stark ist, wie Totilas, aber auch sensibel reagiert, braucht es womöglich einen durchsetzungsstarken, aber ebenso einfühlsamen Partner. Ein Pferd kann man nicht überreden, es ist kräftiger als der Mensch. Der Reiter muss ihm zeigen, die Hufe so über den Sand zu setzen, als wäre es Ballett. Manche halten das für Tierquälerei, andere sehen darin die größte Kunst im Sport.

Schockemöhle fragt Isabell Werth, ob sie Totilas’ neue Reiterin sein will. Werth ist Europa- und Weltmeisterin und hat schon bei Olympia gewonnen. Sie lehnt ab: Sie reite nur Pferde, die sie selbst ausgebildet hat.

Schließlich beteiligt sich Ann Kathrin Linsenhoff, die 1988 als Dressurreiterin in der olympischen Mannschaft Gold gewann, am Kaufpreis. Als Reiter präsentieren sie Matthias Rath. Schockemöhle gibt seinen Namen im November 2010 auf einer Pressekonferenz auf seinem Gestüt im niedersächsischen Mühlen bekannt. Rath rutscht neben ihm auf seinem Stuhl herum.

Gewinnen werde immer nur Totilas, nicht er, sagt er zu den Journalisten, als lasse das den Druck geringer werden.

Totilas’ neuer Reiter ist der Stiefsohn von Ann Kathrin Linsenhoff, der Käuferin. Seitdem lebt er mit dem Vorwurf, der Erfolg sei ihm gekauft worden.

Es gibt Pferdemärchen wie das von der kleinen deutschen Stute Danedream. Erst wollte sie keiner haben, und im vergangenen Jahr hat sie über 3 Millionen Euro gewonnen: ein unscheinbares Pferd, das seinen eher mittellosen Besitzer zu Ruhm und Reichtum reitet. Totilas’ Geschichte dagegen ist die von einem erfolgreichen Hengst und seinem reichen Reiter. Es kann eigentlich nicht weiter bergauf gehen. Als klar ist, dass Matthias Rath Totilas reiten soll, sprechen manche von einem Himmelfahrtskommando.

Die neuen Besitzer lassen Totilas als Marke eintragen. Es gibt Fototassen und Fanshirts. Niemand darf das Pferd mehr malen, ohne eine Lizenzgebühr zu zahlen. Die Marketingmaschine läuft an, noch bevor das Paar zum ersten Mal auftritt. Sein Samen: 4.000 Euro pro Portion.

„Ein solches Pferd trifft man nur einmal im Leben“, sagt sein Reiter Matthias Rath. Er hat vor Glück gelacht

Zunächst geht es bergauf. Im Juni 2011 wird das Duo Deutscher Meister in Balve, im Juli Sieger des Chio.

Wenn Totilas auf den Turnierplatz läuft, setzt er die Hufe präzise wie ein Tänzer, mit einer Wirkung bis in die Zuschauertribüne hinauf, die man bei einem Künstler als große Bühnenpräsenz bezeichnen würde. Totilas dreht leichte Pirouetten, schwebt fast. Er trabt so vollendet auf der Stelle, dass es gleichzeitig gelassen und kraftvoll aussieht. Selbst wenn er nur in seiner Box steht und einen mit blanken Augen mustert, wirkt er wie ein Wesen, das sich nicht aufregen muss, weil es ohnehin gewinnt. Er lässt sich über das seidige Fell streichen und bleibt dabei ruhig stehen. Während sich bei Matthias Rath eher das Gefühl einstellt, der ganze Rummel koste ihn Kraft.

Eine Aura wie ein Hollywoodstar, schreibt die FTD.

Ein Jahrhundertpferd, meint die Süddeutsche Zeitung.

Er überschreitet die Grenzen der Vorstellungskraft, staunt die FAZ.

Bei den Europameisterschaften 2011 aber werden Totilas und Matthias Rath Zweiter, Dritter, einmal reicht es nicht einmal für einen der ersten Plätze.

Millionen statt Goldphantasien, steht in der FAZ.

Ist Matthias Rath der falsche Reiter für Totilas?

Im Winter verletzt sich Totilas, acht Monate treten sie nirgendwo mehr auf. Das „Wunderpferd“ wird zum „Pferd ohne Wunder“.

Matthias Rath versucht den Druck auszublenden, längst liest er nicht mehr jeden Artikel. „Ich werde es nie allen Leuten recht machen können“, sagt er im Juni auf dem Schafhof und nimmt einen tiefen Schluck Wasser. „Es wird immer gute und schlechte Artikel geben. Das ist kein Problem.“ Mit einem Klack stellt er das Glas wieder ab.

Der Schafhof liegt am Rande des reichen Städtchens Kronberg. Sanft gewellte Hügel. Manchmal wird ein Pferd über das Kopfsteinpflaster geführt. In der Nähe der Reithalle gibt es einen kleinen, aber festlich beleuchteten Raum, wie ein Schrein. Drei Vitrinen stehen da mit Medaillen, Urkunden, Fotos. Sie zeigen Ann Kathrin Linsenhoff und ihre Mutter auf ihren Pferden, neben ihren Pferden, mit Zylinder, ohne Zylinder. „Ihr wartet hier“, sagt Klaus-Martin Rath, und seine fünf rotbraunen Jagdhunde hecheln zwar immer noch aufgeregt, aber bleiben stehen. Er schließt die Tür.

Klaus-Martin Rath ist nicht nur Matthias Raths Vater, sondern auch sein Trainer. Er sieht kantiger aus als sein Sohn. Aus dem Blick, aus seiner ganzen Körperhaltung spricht Zuversicht. „Das sind die Olympiaschränke meiner Frau und der Mutter meiner Frau“, sagt er, tritt nah an einen der Schränke heran und zeigt, ohne das Glas zu berühren, auf das Innere der Vitrine. „Dieses Jahr kommt der Olympiaschrank von Matthias dann dazu. Hoffentlich.“ Manchmal vergisst der Vater den Konjunktiv. „Die Mutter meiner Frau, meine Frau und jetzt der Matthias, das ist schon einmalig.“

Wenn Matthias Rath anfangs noch zu viel Respekt vor Totilas gezeigt habe, sagt der Vater, so seien sie jetzt auf Augenhöhe. Manchmal sei ein Pferd wie ein Kind, das austestet, wie weit es gehen darf. Dann müsse man ihm die Grenzen zeigen. Inzwischen sei Matthias manchmal sogar schon der Stärkere.

Während Matthias Rath ein Interview nach dem anderen gibt und der Vater den Raum mit den Olympiaschränken wieder schließt, steht Totilas im Stall, eine Wärmelampe taucht seinen Körper in sonniges Licht. Seine Mähne wurde zu Zöpfen geflochten und mit weißen Bändern eingedreht, wie Perlen reihen sie sich auf den Nackenwirbeln aneinander. Eine junge Frau massiert ihn die Rückenmuskeln entlang. Anschließend tropft sie Babyöl auf ein Tuch und wischt über das Fell, damit es noch mehr glänzt. „Du wirst heute richtig gut aussehen“, sagt sie und kratzt ihm den Rücken, diese ganz bestimmte Stelle. Totilas’ Pflegerin weiß, was er mag. Er dreht seinen Kopf zu ihr und schnaubt ein wenig.

Die Pflegerin macht Totilas fein wie für die Turnierrichter. Der Fotograf eines bekannten Magazins hat sich angekündigt. Kurz vor Olympia soll vielleicht Totilas auf den Titel, ein Coup. Deshalb ist nicht irgendein Fotograf mitgekommen, sondern einer, dessen Fotos auf Kunstmessen und in Galerien gezeigt werden. Es soll ein perfektes Bild werden, ein Siegerbild.

Im April haben Matthias Rath und Totilas in Hagen das erste Turnier seit acht Monaten geritten und 88 Prozentpunkte in der Kür erreicht, ihre persönliche Bestleistung, die allerdings noch etwas unter dem Rekord liegt, den Totilas unter Gal aufgestellt hat. Bei der deutschen Meisterschaft in Balve Anfang Juni zeigen sie zwar nicht ihre beste, aber eine ziemlich gute Leistung.

Zu der Zeit sieht man auf den Vorbereitungsplätzen vor den Auftritten auch etwas anderes. Rath zieht beim Aufwärmen den Kopf des Pferdes so eng an die Brust, dass der Hals ganz rund aussieht. Man spricht von „Rollkur“. Manche sagen, das mache das Pferd beweglicher, es sei eine gymnastische Übung. Die Niederländer würden ihre Pferde so ausbilden und Totilas sei daran gewöhnt. Andere sagen, der Reiter unterwerfe seinen Partner damit, mache ihn gefügig. Das habe nichts mehr mit der natürlichen Schönheit und der Harmonie der deutschen Reiterkultur zu tun. Tierschützer fordern sogar, Totilas und Matthias Rath für Olympia zu sperren, und wenn man in der ersten Hälfte dieses Jahres die Zeitungen aufblättert, gibt es keinen Zweifel an der Stimmung.

Unter Zwang.

Ungleiches Paar.

Der einzige Hengst mit Modekollektion und eigener Internetseite, auf der der Sprecher in seinem Namen bloggt

Ritter und Knecht.

Musste Rath Totilas erst bezwingen, bevor sie erfolgreich sein konnten?

Es ist Mitte Juni, Olympia ist jetzt ganz nah, und die Geschichte vom Wunderpferd Totilas verspricht sich wieder zum Goldmärchen zu wenden.

An der Stallwand, dort könnte es passen. Ein klassisches Porträt, schwarzes Pferd vor schwarzem Grund. Schlichte Schönheit. Während die Pflegerin Totilas’ Hufe poliert, baut der Fotograf seine Technik auf: Lampen für eine opulente Beleuchtung, die große Mittelformatkamera auf einem Stativ. Er hat mit einem andere Pferd geübt, damit es mit Totilas ganz schnell gehen kann.

Die Pflegerin führt Totilas vor das schwarze Tuch und lässt ihn los. Er bleibt stehen. Mustert die Technik und die Menschen um die Technik herum. Große, tiefbraune Augen. Dann macht er mit einem Bein einen Schritt nach vorne und dreht die Ohren, nach links, nach rechts, überallhin, nur nicht nach vorne. Das wirkt nicht so gut auf dem Foto, weshalb schnell ein anderes Pferd aus dem Stall geführt wird. Sofort stellt Totilas die Ohren wieder auf. Er wiehert. Die Position ist klar: Er ist der Chef.

„Matthias?“ Der Fotograf fummelt etwas an seiner Kamera. „Ja?“ „Kommst du jetzt auch auf das Foto?“ Matthias Rath hat sich umgezogen. Er trägt einen Frack über seiner weißen Reiterhose, sein Turnieroutfit, und stellt sich neben das Pferd, dessen Beine parallel stehen wie gezeichnet. „Dreh dich doch bitte um.“ „Umdrehen?“ Der Fotograf bückt sich zu seiner Kamera und zieht eine Jacke über den Kopf. „Dass er dich anguckt, einfach. Dass er was von dir will. Dreh dich von ihm weg.“ Matthias Rath dreht den Rücken zum Fotografen.

Neben dem Pferd, das den Kopf reckt und die Ohren spitzt, wirkt der Reiter nachdenklich, irgendwie zweifelnd. Totilas beherrscht die Inszenierung.

„Ja, das war’s“, sagt der Fotograf, „ein schönes Bild.“

In einer Woche beginnen die Olympischen Spiele. Matthias Rath liegt noch immer mit Fieber im Bett. In London werden vier junge Frauen auf anderen schönen Pferden für Deutschland antreten. Es gehe ihm „richtig beschissen“, teilt Matthias Rath über die Bild-Zeitung mit.

Totilas sei ganz entspannt, es gehe ihm gut, lässt sein Pressesprecher ausrichten.

Carolin Pirich, 34, ist sonntaz-Autorin. Am Sonntag um 13.05 Uhr ist ihre Hörfunk-Reportage über Totilas im Deutschlandradio Kultur zu hören: dradio.de/dkultur