Nach dem Tod

Zappeln und Zittern: Der Berliner Choreograf Christoph Winkler hat mit „Lazarus Signs“ in den Sophiensælen einen Abend über den geschundenen Körper, den Blues und die Auferstehung gestaltet. Das ist sperrig, aber auch schön

Manche Tote leben länger. Von Klaus Störtebecker, dem rebellischen Ostseefahrer, heißt es, er sei nach seiner Enthauptung noch herumgelaufen. Sicher ein Furcht erregender Anblick. Die Wissenschaft erklärt das so: Bei Toten, die sich bewegen, sei das Rückenmark nach dem Hirntot noch intakt und rufe reflexartige Bewegungen hervor. „Lazarus-Zeichen“ nennt man diese Bewegungen.

Der Berliner Choreograf Christoph Winkler hat sich der dunkel raunenden Zeichen angenommen. „Lazarus Signs“ heißt sein neues Stück. Winkler, ernst, schnörkellos und unerbittlich im Entblößen menschlicher Animalität, hat einen Hang zu abseitigen medizinischen Phänomenen. Vor drei Jahren destillierte er aus dem blutrünstigen Shakespeare-Spiel „Titus Andronicus“ diverse Verstümmelungsszenen und verknüpfte sie mit den Internet-Beichten moderner Menschen, die sich der Lust wegen gesunde Glieder amputieren lassen. „Apotemnophilia“ nennt die Medizin diese Neigung.

Und nun also die „Lazarus-Zeichen“. Aus dem Programmheft erfährt man, dass „Lazarus Signs“ ein Abend über den Blues sein will, und über Auferstehung. Die Bibel berichtet, dass Lazarus von Jesus wieder zum Leben erweckt wurde. Der Gottessohn wollte den Verlust des toten Freundes nicht hinnehmen. Winkler transportiert das Motiv der Auferstehung in die Gegenwart des geschundenen Körpers. Er stößt sich an der Macht des Denkens über den Körper, will diese „kognitive Dominanz“ aufheben, wenigstens für die Dauer seines Stückes.

Deshalb darf der Körper hier endlich seinen „Blues“ tanzen, darf nah- und nachtodgerecht zappeln, zittern, schaudern, darf sich im Hospitalismus verlieren, aus der Rolle fallen und Tabus verletzen. Die Idee einer Freiheit jenseits der Zeichen bleibt jedoch Illusion. Winklers Tänzer und Tänzerinnen tun nichts anderes, als ununterbrochen Zeichen in den Raum zu setzen, sie inszenieren Chaos und Ausbruch und tanzen doch eine streng geregelte, hoch disziplinierte Choreografie, die durch gelegentliches Sprechen und Musik rhythmisiert wird.

Acht Tänzer schickt der Choreograf auf die karge Bühne. Sie arbeiten, so scheint es, hart am Limit des körperlich Machbaren: Da wird gefallen, geworfen, gedehnt, gegrätscht, gehangelt, auf hohe Balken geklettert, sich im Schulterstand verdreht und in yogamäßigen Extrempositionen verharrt, bis es fast nicht mehr erträglich ist, und dann gibt es neue Impulse, die neue Bewegungsmuster und Tempi auslösen. Es ist eine Art physischer Ausnahmezustand, in den die Tänzer unter Winklers Leitung zu gehen bereit sind – ein Exzess, der ihnen aus den Poren tritt, und manchmal, nach besonders harten, intensiven Bewegungsparts, ist auf ihren Gesichtern ein Leuchten zu sehen. Diesen Moment mitzuerleben, ist alle Disziplin wert, die es braucht, die langen achtzig Minuten bewegungslos auf dem harten Zuschauerstuhl zu verharren. Bemerkenswert: Musik, Kostüme und Bühnenbild sind nicht nur Beigaben, sondern Bestandteile der Inszenierung.

Die drei großen Holzrahmen auf Rollen (Bühne: Alexander Schellow, Ansgar Prüwer) werden immer wieder hin und her verschoben und greifen direkt in das Geschehen ein. Die maroden, eleganten Kostüme der Vivienne-Westwood-Absolventin Lisa Tjelma Winkel geben den Tänzern mehr Sex als die üblichen Trainingshosen von H & M. Und die Musik fiept und knistert geheimnisvoll, knipst Soundflächen an und aus, hat den Blues und die Welt. Sie kommt von Howard Katz Fireheart und Ekkehard Ehlers und Joseph Suchy, den Pionieren elektronischer Musik, die auf Labels wie Staubgold, Gefriem und Mille Plateaux veröffentlicht haben.

Fireheart sagt anfänglich etwas zu Lazarus, singt a cappella und später schreit er „hell is a place, not a state“, die Hölle ist ein Ort, kein Zustand. Das macht Spaß. Winkler ist nicht Wellness, so viel steht fest. Sein neues Stück „Lazarus Signs“ ist anstrengend und sperrig. Es erzählt nicht, beruhigt nicht, und gibt am Ende keine Auflösung der rätselhaften Versuchsanordnungen, die die Körper da an den Rändern der Vernunft vollziehen. Deshalb aber ist es ein außerordentlich schönes Stück, weil diese Körper so tun, als könnten sie sich selbst vergessen. Für einen Moment nur.

JANA SITTNICK

Sophiensæle, Do.–So., jeweils 21 Uhr