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„Nichts daran war wild“

An einer Regionalgeschichte des Nationalsozialismus arbeitet Jörg Wollenberg auch mit über 80 Jahren noch. Besonders interessieren den Bremer die frühen Konzentrationslager

Von Sebastian Krüger

Seit Jahrzehnten arbeitet er daran, einen lange vernachlässigten Aspekt der nationalsozialistischen Verbrechen stärker ins allgemeine Bewusstsein zu holen: die frühen Konzentrationslager. Ende 2020hat Jörg Wollenberg ein weiteres Buch zu diesen Lagern veröffentlicht, die es überall im Deutschen Reich gab – auch in Bremen.

An der dortigen Uni war Wollenberg, inzwischen 83 Jahre alt, von 1978 bis 2002 Professor für politische Weiterbildung. Er gehört zudem zu den Gründern der NS-Gedenkstätte im ostholsteinischen Ahrensbök. Davor war er Direktor der Volkshochschulen in Bielefeld und Nürnberg. Sein akademisches Fachgebiet sind die KZ, die in den ersten Monaten des Nationalsozialismus entstanden: Bereits wenige Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gab es davon mehr als 80 Lager mit 30.000 Insassen.

So eröffnete Johann Heinrich Böhmcker, SA-Kommandeur und Regierungspräsident des damaligen Landesteils ­Lübeck, Anfang März 1933 das KZ Eutin. Neben NSDAP-Gegnern aus der Arbeiterbewegung wurden dort vereinzelt auch missliebige rechtsnationale Politiker eingesperrt, misshandelt und als Zwangsarbeiter im Straßenbau eingesetzt. Aus dem KZ Eutin gingen weitere Lager hervor, darunter eines in Wollenbergs Geburtsort Ahrensbök. Böhmcker wurde später Bremer Bürgermeister.

Vorrangig Kommunisten wurden ab März 1933 im KZ Mißler in Bremen-Findorff festgehalten – unter dem Deckmantel der „Schutzhaft“; darunter der Musiklehrer und Widerstandskämpfer Hermann Böse. Nach wenigen Monaten kamen diese Gefangenen ins KZ Ochtumsand, einem Schleppkahn auf dem Weser-Nebenfluss Ochtum. Ein Foto der Häftlinge an Bord dieses schwimmenden Gefangenenlagers schaffte es kurz darauf auf die Titelseite der Wiener Wochenzeitung Der ­Kuckuck: Schon zu Beginn des NS-Regimes wussten viele Menschen in Deutschland und außerhalb, welche Verbrechen sich hier abspielten.

Die frühen Lager sind auch als „wilde KZ“ bekannt – ein Begriff, den Wollenberg entschieden ablehnt. „Nichts daran war wild“, sagt er, „auch in den frühen Lagern war jedes Detail geplant und organisiert.“ Unterschiede gab es aber im Umfang der Überwachung. In Ahrensbök etwa gab es keine Kapos, keine Lagerältesten, keine Funktionshäftlinge, die gezwungen wurden, auf ihre Mitgefangenen aufzupassen. Was es gab, waren nur SA-Wachmänner, und davon meist nicht viele.

Wollenberg zufolge kam es da schon mal vor, dass ein Gefangener heimlich floh, um ein paar Stunden mit seiner Familie zu verbringen. Kehrte er abends zurück, ohne dass sein Fehlen bemerkt wurde, war alles gut. Wurde er erwischt, erwartete ihn schwere körperliche Misshandlung – aber es sei selten aufgefallen. „In den späteren Lagern war das anders“, sagt Wollenberg, „da ist fast niemandem die Flucht gelungen.“

Eines war gleich: die Zwangsarbeit. Ihre Ursprünge lagen im Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD), einer Beschäftigungsmaßnahme der Weimarer Republik, eingeführt 1931 angesichts der hohen Arbeitslosigkeit nach der Wirtschaftskrise. Später wurde daraus der Reichsarbeitsdienst (RAD) – das Wort „freiwillig“ fehlte mit gutem Grund.

Auch die Schutzhaft etwa war keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern bereits ein Instrument der Weimarer Justiz gewesen. Und auch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 baute auf Gesetzen aus den 1920er-Jahren auf. Wollenberg meidet den – freilich von den Nazis selbst in Umlauf gebrachten – Begriff „Machtergreifung“ und spricht von der Machterschleichung. Es seien existierende Gesetze genutzt worden, um die Demokratie von innen heraus zu zerstören. Ein Gedanke, der ihn über die Jahre nicht losgelassen hat.

Als er sich dem Thema zu widmen begann, betrat Wollenberg geschichtswissenschaftlich Neuland, jedenfalls in Deutschland: Seine Forschungen zählen zu den ersten hierzulande, die eine Regionalgeschichte des Faschismus schrieben. Nordamerikanische Kollegen waren da weiter, sein enger Freund Lawrence D. Stokes etwa, ein Kanadier, mit Arbeiten über Eutin.

1983 beteiligte Wollenberg sich mit Studierenden an einer Ausstellung zum 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machterschleichung. Eigentlich hätten sie ihren Beitrag im Bremer Rathaus präsentieren sollen, mussten sich stattdessen aber mit dem Schlachthof zufrieden geben. Einige beliebte Persönlichkeiten der Stadt kamen nicht gut weg. „Da haben wir zum ersten Mal Pfeffersäcke wie Ludwig Roselius vorgeführt“, den Gründer der Bremer Firma Kaffee Hag, erzählt Wollenberg sichtlich erfreut.

Dass seine Arbeit nicht überall gut ankam, lag wohl auch am Material: „Oral History war damals en vogue“, sagt er. Aufzeichnungen von Zeitzeugen waren ein beliebtes Mittel, so auch bei den ehemaligen Häftlingen des KZ Mißler. Das Problem daran: Viele der in den frühen Lagern Gefangenen waren Kommunisten – sie ausführlich zu Wort kommen zu lassen, passte nicht ins politische Klima. Auch war es mitunter schwierig, diese Zeitzeugen überhaupt zum Sprechen zu bewegen: Die Häftlinge hatten unterschreiben müssen, dass sie niemals über ihre Haft sprechen würden. Bei vielen saß das nach all der Gewalt offenbar tief, und sie hielten sich auch noch daran, als das „Tausendjährige Reich“ längst bezwungen war.

Wollenberg hat viel publiziert in seinem Leben: Bücher über die Bremer Arbeiterbewegung, eines über die Kommunistin Käthe Popall, die den Krieg in verschiedenen Konzentrationslagern überlebte und später Bremens erste Senatorin wurde. Sein letztes großes Projekt als Hochschullehrer war die Forschung zum KZ Ahrensbök, die er bis heute fortführt. 2000 und 2001 erschienen dazu die ersten Bände, 2016 und 2017 folgten zwei weitere. Kurz vor Weihnachten sind im Berliner Trafo-Verlag seine beiden neuesten Bücher erschienen: ein kritischer Rückblick auf 100 Jahre Volkshochschule und ein weiteres Buch über Ahrensbök.

Nach diesen Veröffentlichungen möchte Wollenberg das Kapitel abschließen und zur Abwechslung mal einen Roman schreiben. Ohne Historie wird aber auch seine Belletristik nicht auskommen: Er möchte über Kardinal Richelieu schreiben und sich so der Geschichte der europäischen Friedensbewegung annähern. Wollenberg lächelt. „Ich werde eine männliche Bertha von Suttner.“

Jörg Wollenberg: „Eine Vergangenheit, die nicht vergeht … Von Holstein über Nürnberg und Bremen nach Auschwitz und zurück zur Gedenkstätte Ahrensbök“, Trafo-Verlag, 226 S., 22,80 Euro

„Mehr Demokratie mit Kultur und Bildung wagen Ein kritischer Blick auf 100 Jahre Volkshochschulen“, Trafo-Verlag, 226 S., 19,80 Euro

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