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: Simulation gegen Langeweile

Ich werde wieder zum Kind. Je länger ich in meiner Wohnung sitze und in diesen Himmel gucke, der seit einem Monat nicht mehr richtig hell geworden ist, desto öfter kippe ich in längst vergessene Seinszustände. Manchmal packt mich eine besondere Form der Langeweile, eine richtige Kinderlangeweile, wie man sie nur spüren kann, wenn man gerade lernt, was Grenzen sind. Vielleicht weil meine Welt – wie die Welt aller – gerade ziemlich viele Grenzen hat. Und wer sich kindisch langweilt, entwickelt eine riesige, alberne Freude an Momenten, die für ein wenig Chaos sorgen, ohne irgendwen zu arg zu irritieren oder gar herauszufordern.

An Silvester fiel es mir zum ersten Mal auf. Mein Freund, ein befreundetes Paar und ich wollten um null Uhr auf die Straße gehen, um vielleicht doch irgendwo ein Feuerwerk zu sehen. In einer Schublade hatten wir noch ein paar alte Wunderkerzen gefunden, die wir den Nachbarskindern auf der Straße kurz vor zwölf in die Hand drücken wollten. Die allerdings schauten uns nur irritiert an, ein wenig mitleidig fast, als wollten sie sagen: Ach Gottchen, wie süß. Ihre Eltern und großen Geschwister nämlich bauten gerade ihre gigantische Böllerbatterie auf.

Als Person, die dazu übergegangen ist, das große – und in diesem Jahr zudem: illegale – Geknalle anstrengend bis verwerflich zu finden, war ich überrascht, wie begeistert ich das Spektakel beobachtete. Der Feinstaub war mir egal, der innere Blockwart still, und ich hüpfte ein bisschen vor Freude über die schönen Explosionen und Regelverstöße, die ich nicht mal selbst begehen musste. Dann gingen wir wieder nach oben und stellten die Reste unseres sehr erwachsenen Lammkarrees in den Kühlschrank.

Nun ist es aber nicht nur so, dass ich mich an Momenten der dezenten Anarchie so sehr freuen kann wie Fünfjährige über einen Hund, der seinen eigenen Schwanz jagt. Die Kontaktbeschränkungsregeln regen auch Fantasie und Spieltrieb an, indem sie einen in Mangelzustände versetzen, wie man sie nur aus der Kindheit kennt: Wer nicht allein einkaufen gehen darf, spielt eben mit dem Kaufmannsladen, wer romantische Liebe noch nicht kennt, lässt Barbie schlimmen Herzschmerz durchleiden. Und gerade gilt eben auch hier: Was nicht funktioniert, wird nachgespielt in meiner WG.

Meine beste Freundin R., die im Zimmer nebenan wohnt, lädt mich manchmal in „Die Bar“ ein. Dann dreht sie eine rote Glühbirne in ihre Lampe. Zum Rauchen muss man vor die Tür, Nüsschen kommen nur alle halbe Stunde frisch in die Schale. R. gibt sich viel Mühe, die Bar-Erfahrung so authentisch wie möglich zu gestalten. Nur ihre Drinks sind stärker als auswärts. Gerade ist R. nicht da, „Die Bar“ ist also geschlossen. Mit dem Rest der Wohngemeinschaft ging ich „ins Theater“, was bedeutete, dass wir einen Stream vom Gorki schauten. Bevor es losging, machten wir uns schick und warteten im Flur auf den Beginn der Vorstellung, als wäre es ein Theaterfoyer. A. spielte über ihr Handy Stimmgewirr ab, das erst verstummte, als wir die Play-Taste drückten. Am nächsten Tag erzählte mir eine Freundin, dass sie dieselbe Vorstellung gesehen hat. „Dann waren wir quasi gemeinsam im Theater!!!!!“, schrieb sie mit sehr vielen Ausrufezeichen. Ich freute mich irgendwie sehr, erstens über den gemeinsamen Theaterbesuch und zweitens darüber, dass nicht nur ich in meiner Wohnung wunderlich werde.

„Ob wir vier wohl alle gleich reden und aussehen, wenn nach dem Lockdown wieder Normalität einkehrt?“, fragt A. mich und die anderen neulich am Küchentisch. Kann schon sein, dachte ich. Hauptsache, wir verlernen nicht, wie man sich die Schuhe zubindet. Julia Lorenz