„Es geht darum, etwas zu tun, ohne es tun zu müssen“

Ulrich Reinhardt erforscht unsere Freizeitgestaltung gestern, heute und morgen. Ein Gespräch über Spontaneität in der Coronapandemie und wie sie sich verändert

Ulrich Reinhardt

Foto: M. Kuhn

50, ist seit 2014 ordentlicher Professor für Empirische Zukunftsforschung am Fachbereich Wirtschaft der Fachhochschule Westküste in Heide/Holstein. Zuvor studierte er Erziehungswissenschaften und Psychologie in Hamburg.

Interview Stefanie Schweizer

taz am wochenende: Herr Reinhardt, was heißt es, spontan zu sein?

Ulrich Reinhardt: Das bedeutet, unvermittelt genau das zu tun, wozu man gerade Lust hat. Dafür müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Zum Beispiel ist es nur ohne äußere Zwänge, bestehende Planungen, Rituale und Strukturen möglich, spontan zu sein. Gerade in der Freizeit vermissen es viele Menschen in Deutschland, spontan zu sein – auch schon vor Corona. Denn die freie Zeit eines Menschen und dessen Spontaneität definieren sich über die Freiwilligkeit hinter beiden Konstrukten. Es geht darum, etwas zu tun, ohne es tun zu müssen. Unter Corona stehen aktuell aber weniger Möglichkeiten zur Verfügung, etwas freiwillig zu tun.

Der Freizeit-Monitor 2020 untersucht das Verhalten der Menschen in Deutschland, wenn sie frei haben. Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?

Die vorhandene Diskrepanz zwischen Freizeitaktivitäten und Freizeitwünschen. Auf der einen Seite dominieren die Medien unseren Freizeitalltag – die sieben häufigsten Aktivitäten sind medialen Ursprungs. Und da sind telefonieren, Social Media und Zeitung lesen noch nicht einmal eingerechnet. 96 Prozent der Befragten nutzen mindestens einmal in der Woche das Internet, 83 Prozent beschäftigen sich mit dem Computer, Laptop oder dem Tablet. Nur 55 Prozent gaben an, sich einmal in der Woche in der Natur aufzuhalten oder spazieren zu gehen. Auf der anderen Seite taucht bei den Freizeitwünschen der befragten Personen keine einzige mediale Aktivität auf, sondern nur soziale, regenerative und außerhäusliche. Wir schaffen es demnach nicht einmal in der Freizeit, das zu tun, was wir eigentlich wollen.

Es gib viele Möglichkeiten, spontan zu sein. Doch Corona schränkt diese gerade ein. Was macht das mit den Menschen?

Natürlich sind viele Unternehmungen momentan nicht möglich. Aufgrund der Verhaltensregeln und Kontaktbeschränkungen fällt es vielen Bürgerinnen und Bürgern derzeit schwer, ein Gefühl der Unbeschwertheit, der Freiheit und auch der Spontaneität zu empfinden. Allerdings waren spontane Freizeitaktivitäten auch vor Ausbruch der Pandemie eine Ausnahme, wurden die allermeisten Beschäftigungen doch fast minutiös genau geplant. Das ergab eine unserer Untersuchungen vor knapp eineinhalb Jahren. Das Ergebnis zeigt, dass die Menschen alle zwei Stunden einen neuen Reiz in ihrer Freizeitgestaltung benötigen. Man trifft sich zum Beispiel mit Freunden zum Kaffee, weiß aber, dass am Abend noch der Besuch im Kino ansteht, weshalb das erste Treffen direkt zeitlich begrenzt ist. Das heißt, es werden in derselben Zeit viel mehr Aktivitäten als früher durchgeführt. Das setzt natürlich eine gewisse Planung voraus. Es ist also durchaus überraschend, dass die Menschen aktuell die fehlende Spontaneität bemängeln.

Welche geplanten und auch spontanen Aktivitäten vermissen die Menschen im Zuge der Pandemie besonders?

Ob Kino- oder Theaterbesuch, Essen oder abends feiern gehen: All dies vermissen die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger zweifellos. Die größte Sehnsucht jedoch herrscht ganz klar nach persönlichen Treffen mit der Familie, Freunden und Freundinnen. Gerade in gefühlt unsicheren Zeiten hoffen die Menschen, dort Gemeinschaft, Vertrautheit, Beständigkeit und Sicherheit erfahren zu können. Im Gegenzug sind besonders populäre Möglichkeiten der Freizeitgestaltung unter Corona Serien und Filme schauen. Zwei von fünf Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern treiben zu Hause Sport, die Hälfte erledigt aufgeschobene Dinge wie die Steuererklärung. Ebenso boomen auch Heimwerk- und Do-it-yourself-Aktivitäten. Viele Menschen ergreifen die Chance, etwas Neues zu erlernen. Und auch das Autokino erfährt ein Revival. All dies findet aktuell häufiger statt als in der Vergangenheit. Diese Tätigkeiten sind allerdings weniger spontan. Natürlich kann man sich überlegen, welche Serie man streamt oder ob man sich den Spielfilm oder den Krimi anschaut. Ein Gefühl von Spontaneität bleibt allerdings häufig aus, da es beim Spontansein mehr um die Aktivität geht als um die Ausgestaltung.

Haben spontane Aktionen eine andere Qualität als geplante Aktivitäten?

Ja, denn etwas spontan zu tun, verleiht der Handlung an sich eine andere, ich möchte fast sagen, aufregende Qualität. Geplante Unternehmungen hingegen stehen für Verlässlichkeit und Kontinuität. Doch weder geplante noch spontane Aktivitäten sind besser oder wertvoller als die andere. Zudem hängt vieles auch von der eigenen Persönlichkeit ab – manchen Menschen gefallen feste, wiederkehrende Elemente besser; andere wiederum genießen den Freiraum für Spontaneität. Ein wichtiges Element, um mit Spaß spontan zu sein, bleibt immer die Freiwilligkeit. Das gilt auch für die Zeit der Pandemie. Das Gefühl, nicht spontan sein zu können, resultiert aus der vergleichsweise eingeschränkten Anzahl spontaner Freizeitaktivitäten. Wenn man aus einer geringeren Menge auswählen muss, fehlt das Gefühl der völligen Freiheit und der eigenen Entscheidung. Es geht also oftmals gar nicht darum, was man wirklich tut, sondern eher darum, was man tun könnte. Diese Wahl zu haben ist entscheidend und wird derzeit vermisst.

Inwiefern wird sich unser Bild von Spontaneität unter Corona langfristig verändern?

Zunächst einmal werden wir die spontanen Aktivitäten – wie Freunde und Freundinnen zu besuchen oder einen spontanen Ausflug zu machen – wieder mehr wertschätzen. Langfristig wird sich unser Verhalten aber nicht grundlegend verändern, denn Spontaneität kann überall und jederzeit stattfinden. Es wird auch zukünftig eine Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit in der Freizeitgestaltung geben. Wie groß diese ist, hängt letztendlich von jedem Menschen selbst ab. Die Verantwortung, etwas ungeplant zu machen, wird – auch ohne Corona – keiner für uns übernehmen.