„Ich mache mir keine Illusionen über das Alter“

Annelore W., Jahrgang 1945, ist von Beruf Kinderkrankenschwester. Sie nimmt das Leben, wie es eben ist. In den Sommermonaten arbeitet sie als Toilettenfrau in einem Biergarten – und hält sich auch sonst fit

„Lore, jetzt ist Schluss“, sagt Annelore W. zu sich selbst, „jetzt gehst du raus, eine Stunde Walken, auch alleine“ Foto: Doro Zinn

Protokoll Plutonia Plarre

Anne W. wird 1945 in Berlin geboren. Mit 18 macht sie eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. Nachdem ihre Ehe zerbricht, zieht sie mit ihrer kleinen Tochter 1970 nach Italien. Dort arbeitet sie in Krankenhäusern und als Sekretärin. 1999 kehrt sie nach Berlin zurück. Nicht nur um die schmale Rente aufzubessern, arbeitet sie in den Sommermonaten als Toilettenfrau in einem Biergarten. Ihre Tochter lebt nach wie vor in Italien. Ihre Mutter ist im Alter von 100 Jahren gestorben.

Die alten Leuten hatten recht: „Du wirst schon sehen. Das wird dir auch mal so gehen“, haben sie immer gesagt. Ich wollte es auch nicht glauben, als ich jung war. Alles stimmt. Alles!

Du wirst ja nicht von heute auf morgen alt. Das ist ein langsamer Prozess. Du hörst nicht mehr so gut, die Zähne klappern, du kannst nicht mehr so gut beißen. Man muss aufpassen, dass man sich nicht überfordert, weil man sich etwas beweisen will. Da fällt man immer auf die Schnauze.

Ich nehme es so, wie es ist. Das ist am besten. Und ja, es stimmt: Ich habe einsame Momente. Natürlich liegt es auch an einem selbst.

Ich hatte eine Nachbarin, die ist verstorben, die lag drei Wochen in ihrer Wohnung. Wie kann einem so was passieren in einem Seniorenwohnhaus? Zwei Türen weiter, auf meinem Flur. Ich hatte sie oft gefragt: „Wenn Sie was brauchen, sagen Sie mir bitte Bescheid“! Das war im Sommer, ich musste zur Arbeit. Ich habe zu der Hauswartsfrau gesagt, dass das stinkt auf unserer Etage wie Gorgonzola. Hier wohnen vor allem alte Männer. Die riechen ja nichts.

Hey, das hat mir Angst gemacht! Ich habe zwar Kontakt zu Leuten im Haus, aber davor bin ich auch nicht geschützt. Ab und zu gehe ich mal einkaufen oder fahre auf den Friedhof nach Steglitz. Und eigentlich habe ich meine Gruppen: die Walking-Gruppe und die Gymnastik-Gruppe, aber die finden wegen Corona jetzt leider nicht statt.

Um meine Rente aufzustocken, arbeite ich im Sommer immer als Toilettenfrau in einem Biergarten. Der Körper verändert sich, man lernt seine Grenzen kennen. In diesem Sommer habe ich zum ersten Mal nur samstags und sonntags gearbeitet. Früher war ich jeden Tag da. Ich habe den Job seit 2003. Mit 800 Euro Rente kommste nicht weit. Schon allein die Miete kostet 350 Euro. Wenn ich die Festkosten abziehe, bleibt kaum was übrig. Ich könnte natürlich Sozialunterstützung beantragen, Wohngeld und so. Aber das wollte ich bisher nicht. Ich habe immer gesagt: Vater Staat ist nicht mein Vater. Ich muss selbst für mich sorgen, solange ich kann. Außerdem kann ich nur so meine Reisen finanzieren.

In dem Biergarten habe ich vier Fußball-Weltmeisterschaften mitgemacht. Der Job als Toilettenfrau gibt mir das Gefühl, dass ich noch gebraucht werde. Wenn ich da mittags angekommen bin und hatte Rückenschmerzen und jemand rief „Hallo Anne!“ waren die Schmerzen sofort weg. Und ich habe eigentlich immer Schmerzen. Ich hatte viele Operationen. Du wirst abgelenkt, du kannst nicht dasitzen und die Füße hochlegen, dann kriegst du auch kein Trinkgeld. Manchmal habe ich vor dem Toilettenhäuschen Kerzen angezündet und ein bisschen Musik aufgedreht.

Nee, Klo putzen ist nicht unter meiner Würde, auf keinen Fall. Ich komme aus dem Krankenhausbereich. Da habe ich Windeln wechseln müssen und Nachttöpfe geschleppt. Wobei ich sagen muss, die Leute haben eigentlich keinen Respekt mehr. Sie sehen, dass ich mit der Bürste über der Kloschüssel hänge, und machen direkt neben mir Dreck. Das wird immer schlimmer.

Mein Leben war sehr turbulent, ich habe wahrscheinlich mehr erlebt als viele andere. Ich war 30 Jahre in Italien, ich spreche fließend italienisch. Meine Tochter ist in Italien geblieben, sie lebt und arbeitet dort. Weihnachten fahre ich immer zu ihr. Da tanke ich Wärme und soziale Kontakte. Aber jetzt, wegen Corona, weiß ich gar nicht, ob ich meine Tochter besuchen kann. Da habe ich ein bisschen Angst, was die Zukunft betrifft.

Bei mir zu Hause läuft der Fernseher von morgens bis abends. Da bin ich ganz ehrlich. Damit sich was bewegt und eine Geräuschkulisse da ist. Ich gucke nicht richtig, natürlich habe ich meine Serien. Ich habe auch ein Tablet. Wenn einer sagt, der Fernseher läuft bei mir nicht, glaub ich das nicht, oder er hat viel zu tun.

Mein Leben war nicht immer einfach, aber viele Probleme machen sich die Leute doch selbst. Was wirklich schlimm war: Ich konnte meiner Mutter nicht helfen, als meine Brüder verstorben sind. Wir waren drei Geschwister. Erst ist mein kleiner Bruder mit 18 bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Mein großer Bruder ist mit 45 zu Tode gekommen. Er hatte mich oft in Italien besucht. Das war schon ein Schicksalsschlag. Ich frage mich immer, wie meine Mutter das weggesteckt hat. Sie ist ja 100 Jahre alt geworden. Im Sommer 2018 ist sie verstorben.

Die letzten Jahre habe ich mich intensiv um sie gekümmert. Meine Mutter hat allein gewohnt, ich bin immer zu ihr nach Nauen gefahren, auch wenn wir nie ein gutes Verhältnis hatten. Ich war das schwarze Schaf, weil ich so weit weg in Italien war.

„Bei mir zu Hause läuft der Fernseher von mor­gens bis abends. Damit sich was bewegt, eine Geräuschkulisse da ist“

Ich mache mir keine Illusionen über das Alter. Das sehe ich ganz nüchtern. Die Schwächephasen kommen, auch wenn man das nicht zugeben mag. Mittags lege ich mich manchmal ein, zwei Stunden auf die Couch. Danach muss ich mich zum Teil richtig aufraffen. Wenn du merkst, du bist heute schon den zweiten Tag zu Hause, obwohl die Sonne scheint, musst du aufpassen. Dann musst du dich zwingen: Lore, jetzt ist Schluss. Jetzt gehst du raus, eine Stunde Walken, auch alleine. Danach geht’s wieder besser, auch wenn es nur Einkaufen ist.

Wenn du Glück hast, triffst du draußen jemanden, dass du wenigstens ein paar Worte wechselst. Ich bin sehr kontaktfreudig, Begegnung mit anderen Menschen fehlen mir sehr. Wenn es mir mal nicht so gut geht, muss ich aufpassen, dass sich meine Tochter keine Sorgen macht. Wir erzählen uns jeden Abend am Telefon, wie der Tag war. Das ist sehr schön, aber sie merkt sofort, wenn ich nicht so fröhlich bin wie sonst.

Ich kann verstehen, dass alte Leute auf den Enkeltrick reinfallen: Es ist das Gefühl, gebraucht zu werden, auch wenn du nur Geld gibst. Manche wünschen sich wirklich, dass auf einmal ein Enkel auftaucht. Die Trickbetrüger haben das so gut drauf. Die haben sich genau informiert und erzählen dann Sachen, die eigentlich nur dein Enkel wissen kann.

Ich brauche immer was, worauf ich mich freuen kann: Koffer packen, in Urlaub fahren. Meine letzte Reise war im Januar nach Ägypten, ich bin gerade rechtzeitig vor Corona zurückgekommen. Aber im Moment weiß man gar nichts. Ohne Pläne, ohne Wünsche, was ist denn das für ein Leben?

Bei einem Urlaub in Kenia, das ist noch nicht so lange her, hatte ich einen ständigen Begleiter. Das ist da überhaupt kein Problem. Viele Touristen machen das so, das sind meistens ältere Damen. Gesellschaft und Zuneigung durch Geld erkaufen. Jeder hat was davon. Für beide Seiten ist das eine Win-win-Situation.

Manchmal schreibt mir der Kenianer noch: Mein Vater ist krank, mein Sohn ist krank, ich brauche 200 Euro. Manchmal schreibe ich zurück, ich habe selber kein Geld, und dann ist es gut. Man muss auch nein sagen können. In Kenia, das muss ich sagen, werden die älteren Leute viel respektvoller behandelt. Hier wirst du zum Teil schief angeguckt, dass du überhaupt noch lebst. Dass du eigentlich nicht mehr da sein solltest.