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: Für ein wenig Applaus sich verheizen lassen

In diesen Wochen muss ich, wenn ich die Coronanachrichten lese, oft an eine Bekannte denken: Sie ist zu einer Art menschlichem Orakel für mich geworden. Als die meisten Zeitungen hierzulande Corona – nach Stand ihrer Wissens- und Erkenntnislage – noch als genauso gefährlich wie eine Influenza einschätzten, erkannte sie als Ärztin den Ernst der Lage. Bei einem Treffen erzählte sie mir in den ersten Märztagen, dass ihr Krankenhaus gerade an Intensivbetten aufrüste und sie in die Coronatestung geschickt werden solle und überlege, sich krankschreiben zu lassen, da sie als Mutter von zwei Kindern Angst vor einer Ansteckung habe: „Guck mal nach Italien! Wenn sie mich in die Testung schicken, übernachte ich für die Zeit woanders, um die Kinder nicht zu gefährden.“

Ich dachte damals, sie übertreibe. Sie war schon immer sehr vorsichtig. Ich erinnerte mich daran, dass sie ihre Kinder, als sie kleiner waren, wegen der Keime nicht auf den Ikeafluren spielen lassen wollte. Dennoch ließ mich das, was sie über die in Italien gängig werdende Anwendung von Triage, also einer Einteilung von Patienten, die intensivmedizinisch behandelt, und solchen, die lediglich palliativ behandelt wurden, erzählte, nicht kalt: Noch in derselben Nacht suchte ich im Internet nach Berichten aus italienischen Krankenhäusern und erschrak so sehr, dass ich zum Amüsement vieler begann, mir einen Schal über Mund und Nase zu ziehen, wenn ich öffentliche Verkehrsmittel betrat.

Nur zwei Wochen später stand ganz Deutschland still. Und die Bilder aus Italien liefen auf allen Kanälen. Der Gewissenskonflikt der Bekannten, sich als Ärztin verpflichtet zu fühlen, Leben zu retten, und als Mutter zuerst an das Wohl ihrer Kinder zu denken, erledigte sich von allein: Die Testungsstation, in der sie eingesetzt werden sollte, konnte in Ermangelung von Testkits nicht aufgemacht werden.

Auch im Sommer und im frühen Herbst, als die Werte stabil im grünen Bereich schienen, die Intensivbetten leer blieben und alle sich entspannten, war die Bekannte fest davon überzeugt, dass eine stärkere Welle kommen und ein erneuter Lockdown unausweichlich werden würde, wenn sich nicht alle in Verzicht übten, solange die Zahlen unten sind. Sie stornierte ihre Reisen und beschränkte ihre Kontakte weiter. Über Menschen, die sich das Reisen nicht nehmen lassen wollten, schüttelte sie den Kopf: „Krisengebiete oder nicht: Wenn sich alle durch die Weltgeschichte bewegen, freut sich das Virus. Und kein Gesundheitsamt kommt mehr hinterher.“

Durch sie habe ich verstanden, wie fragil unser Gesundheitssystem ist. Dass die vielen freien Betten im Ernstfall nichts bringen. Weil nicht ausreichend Pflegepersonal zur Verfügung steht. Schon im Sommer war sie überzeugt: „Spätestens im Winter wird sich immer mehr Krankenhauspersonal infizieren.“

Wieder scheint sie recht zu behalten: Die Zahlen der infizierten Pflegekräfte steigen. Dass sie bei personellem Notstand weiterarbeiten sollen, löst bei ihr Entsetzen aus. Sie wollte in den nächsten Wochen eigentlich eine neue Stelle als Ärztin antreten. Sie hat sich in letzter Minute für eine Stelle in der Verwaltung entschieden, weil sie meint: „Der Notstand ist doch Standard. Auf Station wird man dem Virus zum Fraß vorgeworfen. Und wer würde schon freiwillig wählen, sich für ein wenig Applaus verheizen zu lassen?“ Eva-Lena Lörzer