Tanzende Hände

PHILOSOPHIE Das Haus der Kulturen der Welt zeigt einen Film über Édouard Glissant, den Theoretiker der Diaspora

„Christoph Kolumbus ging, um die Neue Welt zu entdecken. Und ich kehre nun zurück“, sagt Édouard Glissant. Hinter ihm, durch die Fensterluke des Schiffes, sieht man die Weite des Atlantiks. Für seine Dokumentation „Un monde en relation“ begleitete der Regisseur Manthia Diawara den 2011 verstorbenen Philosophen und Essayisten auf seiner Überfahrt zu seinem Geburtsort, der Karibikinsel Martinique.

„Auf diesem Schiff zu sein, ist keine Rache“, spricht Glissant aus dem Off, während die Kamera das orange-goldene Interieur abtastet. Es sei geradezu komisch, dass seine Vorfahren diese Reise unter ganz anderen, furchtbaren Bedingungen machten, um nun symbolisch zurückzukehren. Glissant lächelt. „Und was haben sie erreicht? Vielfalt“, sagt er.

Die Diaspora ist für den Philosophen der Ursprung von Bewegung, der „Übergang zur Vielheit“. Édouard Glissants persönlicher Ausgangspunkt ist Martinique, ein Mikrokosmos – geprägt von dem Machtverhältnis zwischen Sklaven und Herren –, aus dem er seine Theorie der Relation entwickelte. Keine Kultur könne isoliert existieren, genauso wie die menschliche Identität sich durch die Vielfalt ihrer Beziehungen definiere und nicht über eine Abstammungslinie. „Ich mag die Idee, dass ich mich im Austausch mit den anderen verändere, ohne mich selbst zu verlieren“, sagt Glissant.

Er verweist auf die europäische Tradition, in der der Baum als Stammbaum für die Genealogie steht. „Der Baum schließt alles andere aus“, sagt Glissant. „Ich würde nie einen Baum malen, sondern immer einen Wald, einen Dschungel.“ Mit einer bloßen Handbewegung verwirft er das Prinzip der Abstammung. Der Philosoph steht auf der Wiese vor Anse Cafard, dem Denkmal für die Opfer eines zerschellten Sklavenschiffs im Süden Martiniques, und sagt: „Wir haben den afrikanischen Baum auf dem Sklavenschiff verloren, unsere Sprache, unsere Götter, Lieder, alles.“

Was zurückbleibt, sind Spuren des Verlorenen, wie Glissant sie im Jazz sieht, den schwarze Amerikaner „aus dem Leck schmerzhafter Erinnerung“ rekonstruierten. Aber auch er legt sie in seinen Texten: Spuren, die sich kreuzen und verwirren, die wie ein Rhizom in alle Richtungen streuen und nicht wie ein Stamm gerade wachsen.

Der Regisseur Manthia Diawara kommt in seinem Film dem Kulturtheoretiker Éduard Glissant sehr nah: Man ist bei ihm, wenn er aus seinem Werk liest, über die Poetik der Dinge philosophiert und mit seiner Cousine am Gartenzaun scherzt. Seine Hände tanzen, während er spricht, und manchmal stampft er mit dem Gehstock auf. Ganz langsam setzen sich in den Gesprächen um den Begriff der Relation herum die Grundgedanken von Glissants Philosophie zusammen: die Relation als ein Prinzip, das alles mit allem verbindet und eine Welt der Vielheit jenseits des homogenisierenden Zugriffs schafft. Glissant ist überzeugt davon, dass dies im Kleinen beginnt.

„Ein Rassist ist jemand, der verabscheut, was er nicht begreift“, erklärt Édouard Glissant. Doch warum müsse man jeden in allem verstehen, um gemeinsam zu leben? „Ich hasse Brokkoli. Und weiß ich, warum?“, fragt Glissant. „Keinesfalls. Aber ich akzeptiere meine Undurchsichtigkeit in diesem Punkt.“

SONJA VOGEL

■ „Un monde en relation“. Regie: Manthia Diawara, USA/Mali 2010, 52 Min., französisches OmE. Heute zu sehen um 19 Uhr im Haus der Kulturen der Welt. Anschließend Gespräch mit Manthia Diawara und Mukoma wa Ngugi