berliner szenen
: Die Tücken von Patchwork

Bei fünfundzwanzig hören wir zu zählen auf. Noch nie haben wir so viele Glühweinstände auf einmal gesehen. Der Helmi riecht wie der Nürnberger Christkindlesmarkt.

Vor dem weihnachtlich geschmückten Butter Lindner stehen die Leute Schlange, Budni verschenkt Advents­äpfel, und der Eckladen hat von Flaschbier auf Mistelzweige umgestellt. Von 400 Toten per day lässt sich hier keiner die Feierlaune verderben. „Wir ham schon Schlimmeres gesehen“, singen die Zitronen. Ich drehe mich nach einer Frau im Fuchs um. Ihr Begleiter wirft einem Bettler etwas in den Topf, macht ein paar Schritte, kehrt um und tauscht die eingeworfenen Münzen gegen einen Schein. Die Frau im Fuchs zieht ihn weg, sie lachen. Der Bettler nimmt den Schein und hält ihn gegen das Licht.

Vor der Moloko Bar spielt die Verkäuferin nonstop Hits der 80er, Blondie, aber auch FGTH und The Cars. Glühwein mit Schuss. Mir wird ein bisschen übel.

E. berichtet von den Fallstricken der Patchwork­fami­lie. Zu Hause traut er sich oft nicht auf die Couch, weil seine Stieftochter da chillt. Oder sie blockiert stundenlang das Badezimmer. ­Meckern will er nicht, das gibt bloß Zoff mit der Frau. Beim Einkaufen ist es ähnlich. E. schafft die Lebensmittel ran, die Stief­kinder futtern alles weg, und die Frau scheißt ihn an, dass der Kühlschrank leer ist, wenn sie von der Arbeit kommt.

E. ist im Homeoffice, aber ein eigenes Arbeitszimmer hat er nicht. Weil die Frau besser verdient als er, streicht sie die Steuervergünstigungen für Verheiratete ein. Er verdient weniger, zahlt aber mehr, weil alles geteilt wird, auch die Versorgung der ­Blagen. Die große Tochter ist zwanzig, macht aber null Anstalten, auszuziehen. E. kauft jetzt einen Camper, da hat er Platz und einen Kühlschrank für sich allein.

Sascha Josuweit