Nomadenblues in den Zeiten des Hungers

Sie flohen aus dem Sahel und holen mit ihrem Sound die Jugend aus der Lethargie: die Musiker von Etran Finatawa

NIAMEY taz ■ Jeden Morgen ab neun Uhr erfüllt rhythmisches Trommeln die Gasse in Yantala, einem Viertel der nigrischen Hauptstadt Niamey. Hier treffen sich Ghalitane Khamidoune und seine neun Musikerkollegen. Einen Probenraum haben sie nicht, sie üben auf der Terrasse eines Wohnhauses. Als Technik gibt es allein einen kleinen Verstärker für die Gitarre. Das Tor steht offen. Nachbarn schauen herein, bringen Freunde mit, Tee wird aufgesetzt. Die Nachbarschaft verfolgt mit Anteilnahme den Werdegang der zehn jungen Musiker der Band Etran Finatawa.

„Packt an, macht was aus euch, tut etwas für euer Land!“, singt Ghalitane auf Tamashek, der Sprache der Tuareg-Nomaden. Da klatscht sogar die sechzigjährige Hadjia von gegenüber. „Es ist gut, wenn junge Leute Initiative ergreifen“, sagt sie. „Die zehn sind eine gutes Beispiel, dass man etwas tun kann, wenn man will.“ Eigeninitiative ist selten in einem Land, in dem die Arbeitslosigkeit bei 80 Prozent liegt und die Jugendlichen in der Stadt ihre Zeit mit Kartenspielen und Teetrinken verbringen.

Ichumar – „die Arbeitslosen“ in einer Verballhornung des französischen chomeur –, so nennen sich diese jungen Kartenspieler und so heißt auch eines der Lieder. Ghalitane, der es geschrieben hat, war lange ein Ichumar. „Ich hatte diese Perspektivlosigkeit irgendwann einfach satt“, gesteht der 32-Jährige.

Vor zwei Jahren gründete er mit neun anderen jungen Leuten die Musikgruppe Etran Finatawa. „Die Jugendlichen hier in Niger warten alle auf den Tag, an dem jemand vorbeikommt und sagt: Hey, ich habe Arbeit für dich! Doch der Tag kommt eigentlich nie“, meint Alhousseini, der Bassist. Die zehn Musiker kommen aus den Nomadenvölkern der Tuareg und Wodaabe. Sie stammen alle aus der Wüstenregion, 700 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Ihre Familien leben auch heute noch als Nomaden dort mit ihren Herden.

In den letzten Jahren ist die Situation der Viehhalter im Sahel immer schlechter geworden. Heute ernähren die zehn Kühe einer Herde kaum die oft fünfzehnköpfige Familie. Die Flucht in die Stadt ist für viele die einzige Chance. Wegen Wasserknappheit und Dürre flüchteten in diesem Jahr wieder tausende Nomaden in die Städte, nachdem ihre Tiere verdurstet und verhungert waren.

„Ich bin schon seit 1987 in Niamey“, berichtet Ghalitane. „In der Dürre von 1984 hatten wir alles verloren, da blieb mir nichts anderes übrig.“ Von heimkehrenden nigrischen Gastarbeitern aus Libyen lernte er das Gitarrespielen. Als Anfang der Neunzigerjahre Tuareg in Niger gegen die damalige Militärregierung rebellierten, um mehr Autonomie zu erkämpfen, hatte Ghalitane seinen Lebenszweck gefunden: Mit Liedern unterstützte er den Kampf seiner Brüder für Gleichberechtigung. Nach dem Ende der Rebellion durch ein Friedensabkommen 1994 änderte sich das Repertoire. Heute singt er mit Wehmut von den Herden und der Wüste.

Bammo geht das nicht anders. Der Mann aus dem Volk der Wodaabe hat noch eine kleine Herde im Nordwesten des Landes. Doch seit fünf Jahren verbringt er einen Großteil des Jahres in der Hauptstadt. In den vergangenen Jahren schlug er sich mit Schmuckverkauf und Stickarbeiten durch. Sein Cousin Modou ist Wächter in einer Autogarage, sein großer Bruder Manna, der neben ihm sitzt, verkauft Kaffee. „Die kleinen Arbeiten erhalten uns am Leben“, sagt Manna. Doch sie stiften keine Identität, vielmehr verliere man die in der Stadt immer mehr. Um das zu verhindern, spielen sie jetzt in der Band.

„Mit unserer Musik leben wir auch unsere Kultur hier in der Stadt“, schwärmt Bagui, einer der Perkussionisten. Durch die Verbindung der Nomadenkulturen der Tuareg und Wodaabe mit moderner Instrumentierung, durch die Mischung der polyphonen Gesänge und traditionellen Tende-Trommeln mit dem Sound einer E-Gitarre greift die Gruppe Etran Finatawa auf ein breites Repertoire zurück und schafft zugleich einen eigenen Stil. Nomadenblues nennen sie das. Und der geht unter die Haut, vor allem wenn Bammo Agonla, einer der zwei Leadsänger, mit hoher Stimme die Schönheit der Frauen, der Natur und der Rinder besingt. Dann glaubt man sich mitten in der Savanne, durch die der Klang der Trommeln zieht.

SANDRA VAN EDIG

Etran Finatawa auf Europatournee. Nächste Auftritte: Kulturfest „Solidarität“ Mainz (23. 7.), Schweizer World Music Festiv’Alpes (29.–31. 7.), Schweizer Buskers Festival Bern (4.–6. 8.)