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„Sich nicht einfach ins Leben hinein betäuben“

Frank Hofmann, Chefredakteur des ökumenischen Hamburger Vereins „Andere Zeiten“, über Geben und Nehmen in Advents- und Weihnachtszeiten und über spirituelles Laufen

Geben ist schön – aber Nehmen auch, besonders wenn’s gülden glitzert Foto: Gerald Matzka/dpa

Interview Petra Schellen

taz: Herr Hofmann, warum ist Geben seliger denn Nehmen? So steht es in der Bibel, aber logisch begründbar ist das nicht.

Frank Hofmann: Ich lese die Bibel so, dass sie der Tendenz des Menschen, um sich selbst zu kreisen, etwas entgegensetzt. Die Bibel muss nicht sagen: „Pass gut auf dich auf, sieh zu, dass du überlebst.“ Das ist im Menschen drin. Wenn man ihn mit Worten zusätzlich lenken möchte, muss man die „Geben“-Seite betonen.

Könnten Sie einem Egoisten erklären, warum Altruismus sinnvoll ist?

Ich könnte es wahrscheinlich, würde mich dann aber zu sehr in der Linie des „effektiven Altruismus“ sehen, den ich erschreckend finde. Denn diese ethische Orientierung sucht ­Altruismus mit Nützlichkeitsargumenten zu begründen. „Richtig“ ist dann eine Handlung, die den größten Nutzen für alle bedeutet. Das hat zur Folge, dass man seine Emotionen ausschaltet und nicht der Bettlerin etwas in den Hut wirft, sondern auf einem Onlineportal eine Spendenorganisation auswählt, die mit Geld effektiv umgeht. Ich glaube aber, dass „Geben ist seliger als Nehmen“ eher eine Herzenseinstellung ist und nur als solche Bestand hat.

Gibt es hierzulande eine Kultur der Freigiebigkeit?

Ich glaube, so etwas gibt es in zivilisierten Gesellschaften nie in Reinform. Denn es ist ja geradezu ein Zeichen von Rationalität, dass ich nicht absolut freigiebig bin, sondern Entscheidungen „vernünftig“ treffe, unter Abwägung aller Interessenslagen. Am ehesten zeigt sich Freigiebigkeit wohl in der Adventszeit, weil man doch mit gutem Gewissen auf Weihnachten zugehen will.

Apropos: Hat Corona Weihnachten verändert?

Auf jeden Fall. Weihnachten ist dieses Jahr besonders früh in aller Munde, war es doch ein wichtiges Argument, um den Teil-Lockdown im November durchzusetzen. Und viele überlegen zurzeit, wie sie Weihnachten feiern. Weihachten lebt von der Wiederholung eingespielter Traditionen. Jetzt müssen alle, die nicht mehr die Nachkriegs-Hungerjahre miterlebt haben, zum ersten Mal im Leben Weihnachten neu planen. Da fragt man auf einmal: Was ist das Wesentliche an Weihnachten? Welchen Stellenwert hat zum Beispiel der Gottesdienstbesuch?

Die traditionell gut besuchten Weihnachtsgottesdienste werden – Stand heute – auch bei steigenden Coronazahlen erlaubt sein. Wie sehen Sie das?

Ich finde diese Ausnahme nicht ganz nachvollziehbar, weil zum Beispiel Kulturanbieter auch sehr viel in Hygienekonzepte investiert haben. Ich fand es befremdlich, dass die Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt gleich nach der Entscheidung in sozialen Netzwerken postete: „Ja, das ist richtig, Gottesdienst ist wichtig zur Erbauung der Menschen.“ Da kann ich nur sagen: „Mag sein, aber für andere ist das nun mal die Kultur.“

Das Ansteckungsrisiko vollgepfropfter Messen zu ignorieren, wirkt auch wenig christlich-altruistisch.

Ich glaube, es ist allen bewusst, dass man in der Advents- und Weihnachtszeit, wenn Menschen vor der Kirche Schlange stehen sollten, nicht nach dem Motto verfahren kann: „Wir haben in diesem Jahr Gottesdienste mit Hygienekonzept gefeiert, und es hat gut funktioniert, weil wir die wenigen BesucherInnen auf die ganze Kirche verteilen konnten.“

Ein Weihnachtsgottesdienst kann genau so ein Corona-Hotspot werden, wie es die Gottesdienste der Pfingstler und anderer Freikirchen waren.

Wenn man drinnen feiert, besteht diese Gefahr wahrscheinlich. Wobei es bei den besagten Hotspots ja am Gesang und an der Einstellung lag: „Mir wird schon nichts passieren, Gott passt auf mich auf.“ So denken aber die wenigsten Christen. Spannend wird es, wenn der Organist plötzlich „Oh du fröhliche“ spielt. Fangen dann nicht doch alle an zu singen? Das wird nicht einfach. Deshalb will man das Gottesdienstgeschehen zu Weihnachten ja nach draußen verlagern.

Im Winter.

Wer es bequemer mag, dem bleiben zum Beispiel die Video-Gottesdienste, die viele – auch wir vom Verein „Andere Zeiten“ – anbieten. Zusätzlich gibt es von uns zum kostenlosen Download eine Handreichung für die Christvesper zu Hause.

Sie selbst haben ein Buch über den „Marathon zu Gott“ geschrieben. Will die Menschheit den überhaupt?

Ich glaube, jeder Mensch ist auf Sinnsuche und stellt fest, dass ein „Sinn“, den ich in einem Kurzstrecken-Sprint gewinne, mich nicht durchs Leben trägt. Und wenn diese Suche für mich interessant bleibt und ich mich nicht einfach in mein Leben hinein betäube – dann ist es mindestens ein Marathon. Eine Langstrecke durch immer neue Erfahrungen, die integriert werden wollen, denen man Sinn geben möchte. Ich glaube auch nicht, dass man dabei wirklich ans Ziel kommt. Aber es gibt so viele Stationen, die die christliche Theologie vorgedacht hat – und ich finde, sie ist da weit gekommen. Besonders die Verbindung mit der Aufklärung spricht mich an: die Tatsache, dass Reste von Magie aus der christlichen Theologie völlig verschwunden sind. Und dass es wirklich darum geht, ein modernes Existenzverständnis zu entwickeln.

Sie haben auch das „spirituelle Laufen“ erfunden. Wie funktioniert das?

Es ist gedacht für die Menschen, die mit anderen Wegen – die man natürlich auch wählen kann – Schwierigkeiten haben. Es fällt nicht jedem leicht zu meditieren, und in einen Zustand zu kommen, in dem man die Gedanken fließen lässt, ohne sie festzuhalten. Das spirituelle Laufen ist da eine sehr schnelle und einfache Methode. Man muss nur bereit sein, eine gewisse Ausdauer zu entwickeln. Dann kommt man durch das Laufen nach 30 bis 40 Minuten in einen Bewusstseinszustand, den man im Alltag nicht hat und der einen für viele Stunden aufladen kann.

Ist das ein spiritueller Zustand?

Nicht jeder, der 40 Minuten läuft, kommt in einem spirituellen Zustand. Aber es ist durchaus möglich, die Lauf-Erfahrung als spirituelles Erlebnis anzusehen. Das muss man vielleicht erst mal kontrafaktisch tun und sagen: Ich nehme jetzt einfach mal hin, dass ich eine besondere Verbindung spüre zum Urgrund allen Seins. Und je mehr ich diese Übung entwickle, desto besser kann ich das als gegeben annehmen.

Foto: privat

Frank Hofmann

58, Philosoph, Germanist und Theologe, ist seit 2014 Chefredakteur des Vereins „Andere Zeiten“. Seit 2020 ist er zudem Lehrbeauftragter für Theologische Sprachethik an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Ist Ihr Laufen eine Art Gebet?

Das kann man schon sagen. Ich bin da jedenfalls konzen­trierter als bei jedem anderem Gebet.

Und warum haben Sie 2013, spät im Leben, noch Theologie studiert und sind vom Magazin „Runners World“ zum ökumenischen Verein „Andere Zeiten“ gegangen?

Weil es in mehrfacher Hinsicht ein Wendepunkt in meinem Leben war. Unter anderem bin ich mit Mitte 40 erstmals Vater geworden. Ich habe mich auch Sinnfragen gewidmet und mich intensiv mit Theologie unter philosophischen Aspekten befasst.

Auf der Suche nach dem Gottesbeweis?

Nicht konkret. Aber Kirche war für mich bis dato gleichbedeutend mit meiner evangelikalen Kindheit, aus der ich mich irgendwann mit Gewalt gelöst habe, sehr schnell und rabiat. Danach habe ich viele Jahrzehnte als militanter Atheist gelebt. Irgendwann habe ich gemerkt: Theologie ist nicht nur diese evangelikale erweckte Pfingstbewegung, mit der ich groß geworden bin. Sondern Theologie ist noch weiter zu denken, als die Philosophen es taten. Die Theologen standen gegenüber den Philosophen ja stets unter Rechtfertigungsdruck. Deshalb haben sie die Probleme noch tiefer durchdacht. Mich mit dieser philosophischen Lust, die ich als Atheist entwickelt hatte, um alles Trans­zendente zu zerstören, auf die Theologie zu stürzen: Das hat mir große Freude gemacht. Mit großer Leidenschaft habe ich mich mit Ikonen wie Augustinus, Martin Luther und Karl Barth befasst.

Hat Ihnen das mehr Zweifel oder mehr Glauben eingetragen?

Ich würde nie behaupten, dass ich „gläubig“ bin. Ich bin ein leidenschaftlicher Zweifler, und genau das finde ich schön. Denn Zweifel ist ja ein Indikator dafür, dass etwas passiert. Dass man – wie beim Laufen – immer in Bewegung ist.