Die zweite Rettung der Dokumente

Als vor elf Jahren in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires das jüdische Gemeindezentrum AMIA von einem Anschlag zerstört wurde, halfen hunderte Jugendliche spontan, die wertvolle Dokumentensammlung zu retten. Heute erinnern sie sich

„Du hebst Schutt und siehst einen Körperteil. Das sollte man mit 15 nicht“

AUS BUENOS AIRES JÜRGEN VOGT

„Wir wohnten damals in der Pasteurstraße 200. Ich schlief noch, als plötzlich das ganze Haus bebte“, erzählt Demian. Mario berichtet: „Als ich an diesem Morgen aufwachte sagte meine Mutter zu mir: ‚Sie haben die AMIA in die Luft gejagt.‘ “

Am Morgen des 18. Juli 1994 explodierte eine gewaltige Bombe am Gebäude des jüdischen Hilfswerkes AMIA in der Pasteurstraße 633, im Zentrum von Buenos Aires. 85 Menschen wurden getötet, 300 verletzt und mehr als 400 umliegende Wohnungen und Geschäfte zerstört oder beschädigt. Wer genau hinter dem Anschlag steckte, ist bis heute nicht geklärt.

Demian und Mario waren damals 15 Jahre alt. Nicolás war 18: „Als ich die Nachricht hörte stand ich auf, zog mich an und ging hin. Ich ging durch die Menschenmenge und machte mich daran, die Trümmer wegzuräumen. Ich nahm an den ersten Rettungsmaßnahmen teil, um nach Überlebenden zu suchen.“

Die Bombe tötete nicht nur Menschen, sie verwüstete auch eine Bibliothek. Im dritten und vierten Stock des Gebäudes war das IWO untergebracht, das jüdische wissenschaftliche Institut. Heute trägt es den Namen Jüdisches Forschungsinstitut – Stiftung IWO. Das Herzstück des IWO waren und sind das Archiv und die Bibliothek. Es ist eine einzigartige Sammlung von Dokumenten und Büchern in jiddischer Sprache, historische Dokumente der jüdischen Geschichte in Argentinien und zahllose vor den Nazis aus Europa gerettete Publikationen, Schriftstücke und Gegenstände der jüdischen Kultur. Das IWO war 1925 im litauischen Vilnius gegründet worden, um die jüdische Kultur besonders in Osteuropa zu erforschen. Schon 1928 wurde in Buenos Aires eine Filiale eingerichtet.

„Das Gebäude war nach der Explosion wie ein zweigeteilter Apfel. Die eine Hälfte fehlte, die andere stand noch, so war es auch mit der Bibliothek“, sagt Ester Szwarc, die akademische Leiterin des IWO.

Noch während die Einsatzkräfte nach Überlebenden suchten und Verletzte bargen, begann die unglaubliche Rettungsaktion der einzigartigen Bibliothek, an der sich bis zu 800 Jugendliche beteiligten. Die meisten hatte noch nie etwas vom Archiv des IWO gehört. Victór, damals ebenfalls 15 Jahre: „Da kam einer und sah die Bücher, die Papiere, all die Sachen und fragte: ‚Was machen wir damit? Es wird regnen, wir können das doch nicht liegen lassen.‘ “ Mario: „Kaum war ich bei der AMIA, fing ich an, Papiere zu sammeln, die lagen überall verstreut. So habe ich reagiert: Anstatt nach Überlebenden zu suchen, habe ich angefangen, Papiere zu sammeln, Archivmaterial, Aktenmappen, Bücher.“

Nicolás: „Ja, so kam das mit den Büchern. Dann trafen wir Ester, die uns sagte, dass die eine Hälfte der Bibliothek mit dem Haus zusammengefallen ist und die andere Hälfte noch stand. Und als wir wussten, dass es eine der wichtigsten jiddischen Bibliotheken war, mussten wir einfach anfangen, sie zu rekonstruieren. Ja, noch als die Trümmer weggeräumt wurden, fingen wir an, wieder etwas aufzubauen, etwas von der AMIA.“

Hilferufe wurden an die Schulen geschickt, die schickten ihre Schüler. „Sechs Monate habe ich mitgemacht, mit den unterschiedlichsten Leuten, in den unterschiedlichsten Situationen, um etwas zu retten, um Bücher zu retten“, berichtet Diego. Und Victór: „Wir bildeten Ketten von 80, 100 Leuten, die von überallher kamen, Jugendliche, teils auch Erwachsene, Juden und Nichtjuden.“

Diego berichtet: „Ich war 15, ein kleiner Junge. Ich wollte helfen. Ich sagte, ich sei 18. Ich musste lügen, um helfen zu dürfen. Und dann siehst du Bilder, die du nie wieder vergessen wirst. Du hebst ein Stück Schutt weg, und darunter siehst du einen Körperteil von jemand. Etwas, was du mit 15 eigentlich nicht sehen solltest.“

Wie Diego machten es viele. Nicolás: „Wir waren einfach ungestüm. Jugendliche eben, unverantwortlich, rebellisch, leichtfertig.“

Die Jugendlichen hatten weniger Furcht, sagt Ester Szwarc, die mehr und mehr zur Koordinatorin wurde. „Es ging darum, die Dokumente, das Archiv zu retten. Die Bücher standen vielleicht auch in einer anderen Bibliothek, die kamen an zweiter Stelle.“ Zahllose Schriftstücke, Tonträger und Gegenstände wurden gerettet und mehr als 70.000 Bücher. Vieles davon ist doppelt gerettet: einmal vor den Nazis und einmal aus den Trümmern..

Die unmittelbare Rettung war das eine, das Reinigen und Ordnen das andere. In eigens organisierten Kursen brachten sich die Jugendlichen das behutsame Säubern bei. Ein Teil ist im neuen Gebäude der AMIA und am neuen Ort des IWO wieder zugänglich.

Die Zitate der Jugendlichen stammen aus dem Dokumentarfilm „Die Jugendlichen, die die Erinnerung bewahrten“ von Rodolfo Compte, der demnächst auch mit deutschen Untertiteln erscheinen wird. Kontakt: generacionjoven@yahoo.com