Begeisternde Beiläufigkeiten

Noch ein Buch über Venedig? Nein, sondern ein Buch über die unerkannten Sehenswürdigkeiten der Stadt, auch über die Kunst des Flanierens

So wird die ganze Stadt so nebenbei auch zum Open-Air-Ausstellungsraum

Es gibt bekanntlich zwei Kategorien von Sehenswürdigkeiten: die, die ihren Platz schon qua Definition für immer und ewig in der Welt beanspruchen, und die, die ihre Bedeutung aus anderer Quelle nachträglich schöpfen (persönliche Empfehlung, Internet oder zum Beispiel auch die Filmleinwand). Erratische Aufladung. Funktioniert zuverlässig. So wie damals, als wir, durch die Seitenstraßen im Niemandsland vor New Orleans fahrend, fieberhaft den einen Baum aus der allerersten Szene von „True Detectives“ suchten und ihn dank genauestens recherchierter Koordinaten in Fanforen zu der Serie nach einigen falschen Treffern tatsächlich ­fanden.

Zwar nur von der Straße aus und nur aus einiger Entfernung (besagter Baum befindet sich auf einem Privatgrundstück), doch die Freude stand der beim ersten Erblicken des Eiffelturms in nichts nach: Da stand er nun, der uns allen in seiner schauerlichen Erscheinung schlaflose Nächte bereitet hatte, hier ganz unschuldig und des ganzen Pseudo-Voodoo-Horrors der Serie entkleidet und trotzdem unverkennbar er selbst.

Nicht mit botanischen TV-Stars in den Südstaaten, aber ansonsten doch mit ähnlich tollen Sehenswürdigkeiten verwandter Kategorie wartet jetzt dieses Büchlein auf: „Beiläufig Wesentliches in Venedig – Acht überraschende Spaziergänge“ verdankt seinen Charme mindestens ebenso dem großen Gedankenreichtum seiner Herausgeber, der Nomadisierenden Veranstalter, wie der Lagunenstadt selbst. Die Schweizer haben zuvor bereits einen Band über Basel vorgelegt, nun also Venedig.

„Noch ein Buch über Venedig?“, befragt man sich im Vorwort kritisch selbst, „Es gibt doch schon Bibliotheken voller Literatur über Venedig. Es sind doch schon alle Fassaden, Türen, Fenster, Kamine, Kanäle und Brücken tausendfach beschrieben und millionenfach fotografiert worden.“ Und dann ein großes Trotzdem: Klar, aber es gibt eben auch so viele Dinge, die trotz dieser Überfülle an Bildern noch gar nicht entdeckt, überhaupt nicht beschaut, erkannt, beachtet worden sind.

Zum Beispiel die metallenen spitzen Krokusse auf dem Mauerabsatz im Ramo Primo Mi­notto, die den Zugang zu einem geheimnisvollen Garten abzuwehren scheinen (Spaziergang 1). Das weiße Raster mit Außenspiegel am gerundeten Bootsdach der Vaporettostation ­Guglie (Spaziergang 6). Algen, die sich tiefgrün neben ­einer rhombenverzierten Treppe im leuchtenden Türkis des Canale di San Pietro entfalten (Spaziergang 8).

Das mag jetzt vielleicht ein wenig nach Lebensratgeberschwachsinn vom großen Glück im Kleinen klingen, aber viel eher funktioniert das Prinzip hier geradewegs umgekehrt: All diese Beiläufigkeiten, die waren ja schon gigantisch gut und groß, mussten halt nur erst noch entsprechend herausgearbeitet werden! Befände man sich noch in den frühen 2000ern, könnte man sie gut als die Indie-Stars unter den Sehenswürdigkeiten bezeichnen.

Während Reiseführer sonst mit geronnenem Wissen handeln, lautet die Währung der Nomadisierenden Veranstalter auf grobe Mutmaßung und generöse Interpretation. Was nicht mit komplettem Unfug zu verwechseln ist (wenngleich auch der seinen berechtigten Platz in dem Buch findet): Vieles ist kenntnisreich mit zahlreichen Querverbindungen zu Architektur, Literatur, Stadt- und Kulturgeschichte notiert.

Die Beiläufigkeit wird dabei zur höchsten Kunstform kondensiert. Alles natürlich à point: Ach übrigens: Erinnern diese Sackwagen im Ghetto Vecchio nicht an Oliver Hardy und Stan Laurel, der eine mit schwarzen Schuhen, der andere mit eleganten gelben, beide ausnahmsweise mit roten Handschuhen bekleidet? Und dieses bunte Boot mit Streifenverdeck in zwei Varianten – „Ob Thomas Demand und Anna Viebrock ein Denkmal für Alexander Kluge errichteten?“ So wird die Stadt ganz nebenbei zum Open-Air-Ausstellungsraum, stetig auf ihre skulpturalen Qualitäten abgeklopft.

Die Herangehensweise von Simon Baur und Silvia Buol, die hinter den Nomadisierenden Veranstaltern stecken, erinnert wohl nicht ganz zufällig an eine akademische Disziplin mit dem schönen Namen Promenadologie, in Deutschland auch als Spaziergangwissenschaft bekannt. Ihr Begründer Lucius Burckhardt, ein Schweizer Soziologe und Nationalökonom, ergründete die Feinheiten ebenjenes Spazierengehens und was man dabei überhaupt wahrnehmen kann. Lange Zeit lehrte er an der Gesamthochschule Kassel.

Legendär seine „Fahrt nach Tahiti“, die als soziales Experiment unter anderem während der documenta 8 durchgeführt wurde: Auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz rekon­stru­ier­ten Burckhardt und sein Team besagte Entdeckungsreise von Thomas Cook und Georg Forster und verfrachteten ihr Setting ins nordhessische Naturschutzgebiet Dönche. Wie exotisch könnte die Landschaft wahrgenommen werden, die vor der eigenen Haustür liegt? Was könnten die Entdecker umgekehrt entdeckt haben in Tahiti, mit ihrem naturgemäß vorgeprägten Blick? Eine Ahnung von Antworten auf diese Fragen vermitteln auch Baurs Texte und Buols Bilder.

„Beiläufig Wesentliches in Venedig“ versucht gar nicht erst, Momentaufnahme und gedrucktes Werk zu versöhnen, sondern treibt den Spagat aufs Äußerste: Wie bereits bei den Spaziergängen durch Basel werden auch hier Schattenwurf, Wasserläufe auf Straßenböden und ganz sicher nur kurzfristig Ausgebreitetes oder Abgestelltes in die Liste der Sehenswürdigkeiten integriert. Sind nicht auch Markusplatz und Rialtobrücke letztlich nur temporäre Erscheinungen, die kurz auf unserer Bildfläche auftauchen und danach wieder verschwinden?

Ganz falsch wäre allerdings, dies alles nun als einen Abgesang auf die Sinnhaftigkeit des Reisens zu verstehen. Im Gegenteil: Natürlich macht man der Form halber an den meisten Orten der Welt so in etwa das Gleiche. Nur eben mit völlig anderen Inhalten. Es lohnt sich immer, genauer hinzusehen. Vor allem wenn es so spezifisch wird wie in diesem Büchlein, das sich vorerst auch als Reiseersatzlektüre eignet. Und wenn eines Tages wieder alles beim Alten sein sollte, so promeniert man zielstrebig zwischen Menschenmassen mit digitalen Reiseführern und Restaurantbewertungsapps hindurch zu den erfundenen, freigelegten, wahren Sehenswürdigkeiten. Mit ein bisschen Glück stehen dort vielleicht sogar just zwei Sackkarren an die Wand gelehnt, die ausschauen wie Stan Laurel und Oliver Hardy.

Katharina J. Cichosch

„Beiläufig Wesentliches in Venedig: Acht überraschende Spaziergänge“ bei Park Books, 19 Euro. „Der Reiz des Nebensächlichen: Sieben Spaziergänge durch Basel“, ebenso. „Die Fahrt nach Tahiti“, eine Zusammenfassung des gleichnamigen Projekts, ist antiquarisch zu haben.