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: Wie Heroin in Aerosolform

Bevor der Laden zum Szenehangout wurde, flogen jeden Abend Gläser durch die Luft

Ja, wie nennt man das denn nun? Teil-Lockdown, Soft-Lockdown, „Hauptsache, die Kinder sind in der Schule und die Wirtschaft läuft“-Lockdown?

Mich verwundert bei den Debatten über die Maßnahmen gegen die Pandemie, dass manchmal ausdrücklich, oft nur zwischen den Zeilen, das nationale Interesse an einer funktionierenden Wirtschaft gegen das angebliche Privatvergnügen und Leckerli namens Kultur ausgespielt wird. Die kann man sich anscheinend nur „leisten“, wenn alles gut läuft. Ein Sahnehäubchen, diese ominöse Kultur? Sobald man das Wort Kultur etwa durch Veranstaltungswirtschaft ersetzt, sieht die Sache anders aus. Die ist erkennbar ein ökonomisch hochpotenter Sektor mit mehr Umsatz und Arbeitsplätzen als so manche Industrie.

Wir nutzten am Samstag die Gelegenheit, noch mal beziehungsweise überhaupt mal wieder ins Kino zu gehen. Wir waren nicht viele im Charlottenburger Klick Kino, weil es galt, Abstandsregeln einzuhalten. An der Decke sah ich in regelmäßigen Abständen eingelassene schwarze Rohre und hoffte, dass es sich dabei um Teile eines gut funktionierenden Belüftungssystems handelt. Auf was man heutzutage so alles achtet! Trotzdem entschieden wir uns, die FFP-2-Masken aufzubehalten, sicher ist sicher.

Knut Hoffmeister zeigte „Goldener Oktober“, sein „Kleines Fernsehspiel“ von 1985, und ich wunderte mich einmal mehr, was für radikale Filmkunst früher im TV zu sehen war. Am schönsten waren die wild geschnittenen Zeitrafferaufnahmen durch die nächtliche Stadt, gefolgt von Schnipseln aus dem Berliner Nachtleben. Die grandiose Zazie de Paris singt ein Chanson im Dschungel, Blixa Bargeld auf einer nicht identifizierbaren Bühne einen New-Wave-Schlager.

Aber selbst bei einer Zeitreise schleicht sich die Pandemiewahrnehmung ein. Viele Aufnahmen sind grobkörnig, und so kommt es vor, dass das Gehirn des Zuschauers Masken in undeutlich zu sehende Gesichter zaubert, wo gar keine sind. Wobei es nicht abwegig wäre, wenn die Leute Masken trügen. In der Paralellwelt dieses Films ist Heino Kanzler und Trini Trimpop Innenminister. Die Luft ist so schlecht, dass Sauerstoff auf dem Schwarzmarkt gedealt wird. Die Leute saugen es ein, als sei es Heroin in Aerosolform.

Nachher sitzt man draußen, ohne Heizpilz, obwohl man den in Charlottenburg haben dürfte, und lernt im Gespräch mit klugen Menschen einiges über das olle Westberlin. Unter anderem, dass der erste Dschungel am Winterfeldplatz war und dort Rio Reiser ein- und ausging. Bevor der Laden zum, heute würde man sagen: queeren, Szenehangout wurde, flogen jeden Abend Gläser durch die Luft. Man schlug sich. Das hatte damit zu tun, dass die Wirtin den Laden von einem Gangster geschenkt bekommen hatte und die Klientel entsprechend gangsterisch war. Früher teilte sich die Boheme ihre Spots mit Leuten, deren Eltern keine Kunstprofessoren waren.

Für den Bürger war und ist gemeinsames Trinken und Reden keine Kultur. Die deutschen Protestanten haben die Kultur zur Religion gemacht. Das merkt man heute noch. Jetzt haben zwar die Shoppingmalls auf, die Kinos, Theater und Kneipen aber zu. Beten kann man ja zu Hause. Ulrich Gutmair