Der Richter und die Denker

Mit aller Macht geht die Staatsanwaltschaft gegen einen Stuttgart-21-kritischen Richter a. D. vor. Gesucht wird ein Maulwurf, der dem ungeliebten Juristen angeblich vertrauliches Material zugesteckt hat. Dabei war Behörden und Landesregierung jedes (legale) Mittel recht. Auch eine Hausdurchsuchung musste sein. Dachten sie und gossen neues Öl ins Feuer

Von Meinrad Heck

Große Aufregung um ein paar Buchstaben. Es geht um NfD und LfV. Dahinter stehen Begrifflichkeiten wie „Nur für den Dienstgebrauch“ und „Landesamt für Verfassungsschutz“. Die Zusammenhänge, die Dieter Reicherter, Stuttgarter Jurist und Richter außer Diensten, aufgerollt hat, entbehren nicht einer gewissen Logik. NfD gehört nun mal zu LfV wie Max zu Moritz. Es ging um ein paar Papiere, die diesen NfD-Stempel trugen, weshalb sie von Staats wegen geheim bleiben sollten, aber nicht geheim blieben, weil jener Richter a. D. daraus zitiert hat. Das war vor vielen Monaten im Februar 2012 gewesen. Seitdem weiß eine kritische Öffentlichkeit, was sie – weil geheim – nicht wissen darf. Dass sich nämlich nicht nur die Polizei, sondern auch das Landesamt für Verfassungsschutz ganz offensichtlich um Stuttgart-21-Gegner kümmert. Und Vater Staat will wissen, wo die undichte Stelle ist.

Dieter Reicherter, so sagt er über sich selbst, habe seinem Bundesland viele Jahre als Staatsanwalt und Richter am Landgericht gedient. Und er sei dabei „nicht immer zimperlich“ gewesen, sagen Exkollegen. So ähnlich lesen sich dann auch die Geschichten, die seit Wochen über den Juristen publiziert werden. Immerhin hatte die Staatsmacht auf der Suche nach Geheimpapieren die Wohnung ihres früheren Bediensteten durchsucht – wie zufällig gerade dann, als er nicht zu Hause gewesen war. Gerne zoomen die Kameras dann auf die Idylle im Ort und legen nahe, dass es mit derselbigen seit der Polizeiaktion beim Richter a.D. jetzt doch irgendwie vorbei sei. Der Boulevard will auch bedient werden. Manchmal geht es in den Geschichten auch um ein paar Fakten, wer wann was und wo gewusst und gesagt hat. Eher selten geht es ans sprichwörtliche Eingemachte: Was haben die Schlapphüte bei dem Protest um Stuttgart 21 zu suchen? Wie weit gehen sie dabei?

Denn dass das Landesamt für Verfassungsschutz in Stuttgart bei der Überwachung von Stuttgart-21-Gegnern eine Rolle spielt, scheint gewiss. Nichts anderes legt dieses Geheimpapier, dessen Quelle die Staatsanwaltschaft beim Richter a.D. sucht, nahe. Die Schlapphüte tauchen an zwei Stellen in dem neunseitigen „Rahmenbefehl … im Zusammenhang mit dem Bauprojekt Stuttgart 21“ des Innenministeriums Stuttgart vom 20. Dezember 2011 auf. Einmal heißt es in jenem Dezember 2011 kurz nach dem S-21-Volksentscheid (Ausriss): „Nach aktueller Einschätzung des LKA unter Berücksichtigung der Erkenntnisse des LfV BW [Verfassungsschutz, d. Red.] könnte der Ausgang des Volksentscheids dem Protest … nach und nach den bürgerlichen Rückhalt entziehen.“ Was weiß der Verfassungsschutz über den bürgerlichen Rückhalt, und woher weiß er das?

Verfassungsschutz äußert sich erstmals

In dem Papier heißt es weiter: „Das Landeskriminalamt erstellt unter Einbeziehung der Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz, des Polizeipräsidiums Stuttgart, der Landespolizeidirektionen … ein Gesamtgefährdungslagebild zum Bauprojekt Stuttgart 21, insbesondere hinsichtlich entsprechender Versammlungen und Protestformen, relevanter Veranstaltungen, potenzieller Störer sowie gefährdeter Personen und Objekte.“ Auf Anfrage der Kontext:Wochenzeitung äußerte sich der Verfassungsschutz zu seiner Rolle. Wir wollten im Detail wissen, wie die im Geheimpapier genannte Einbeziehung des Verfassungsschutzes konkret aussieht, ob der Geheimdienst gezielt Personen wegen ihrer kritischen Distanz zu S21 beobachtet, welche Quellen dazu ausgewertet werden, ob nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt, personenbezogene Daten ausgetauscht werden, mit welchen Behörden der Dienst kommuniziert oder ob der Verfassungsschutz grundsätzlich gezielt im Bezug auf das Bauprojekt Stuttgart 21 tätig wurde oder noch wird.

„Keine Rückschlüsse auf Beobachtung des Protestes selbst“

Kurz vor Redaktionsschluss kam die Antwort eines Sprechers, mit der sich der Geheimdienst erstmals zu seiner Rolle äußert (vollständig im Wortlaut):

„Bei der Protestbewegung gegen ‚Stuttgart 21‘ handelt es sich um einen Protest, der vom bürgerlichen Spektrum getragen wird. Aufgrund fehlender Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen beobachtet das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) den Protest daher nicht. Allerdings haben Parteien aus dem linksextremistischen Spektrum wie DKP, MLPD und ‚DIE LINKE‘ versucht, den Protest zu instrumentalisieren, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufzunehmen und mit ihrer Kritik am politischen System zu verbinden. Es ist diesen Gruppen aber bisher nicht gelungen, ihren Einfluss so auszudehnen, dass sie breite Bündnisse erzielen. Die Tatsache, dass das LfV bei der Erstellung von Lagebildern grundsätzlich durch das Landeskriminalamt (LKA) zu beteiligen ist, beinhaltet die Frage, ob extremistische Aktivitäten, wie geschildert, festgestellt oder verneint werden können. Gegebenenfalls einzubringende Erkenntnisse über die extremistischen Parteien und Organisationen, die das LfV beobachtet, werden dabei im Rahmen des gesetzlichen Auftrags des LfV gewonnen und entsprechend der gesetzlichen Grundlage an das LKA weitergegeben. Aus der Beteiligung des LfV an der Erstellung des Lagebilds können daher keine Rückschlüsse auf eine Beobachtung des Protestes selbst gezogen werden. Mit freundlichen Grüßen …“

Ohne auf die angefragten Details einzugehen, will der Geheimdienst also ausdrücklich „keine Rückschlüsse auf die Beobachtung des Protestes selbst“ gezogen sehen.

Damit ist vielleicht manches erklärt, aber nicht alles geklärt. Nach der umstrittenen Hausdurchsuchung hält sich deshalb hartnäckig für manche die Einschätzung, für andere die Gewissheit, dass sich die baden-württembergische Justiz auch nach der Machtübernahme durch Grün-Rot nicht über die Schulter und schon gar nicht in die Karten schauen lässt, sondern, wie es heißt, „einseitig“ vor allem gegen den Protest vorgeht und etwa jenen „Rustikalen Einsatz“ vom 30. September 2010 mit Wasserwerfern gegen S-21-Gegner immer noch nicht aufgearbeitet hat. Der Fall des Richter a. D., die Hausdurchsuchung bei ihm und die Kopie seiner Computerdateien mit persönlichen Daten wurde dagegen vom Innenministerium ausdrücklich „ermächtigt“. Schließlich ging es dabei um die Suche nach einem Maulwurf in den eigenen Reihen. Vor allem aber führte die „unbefugte Offenbarung eines Geheimnisses“, so wörtlich, zur „die Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen“. Und das muss immer noch ein Geheimnis bleiben.