: Geschichte und Gegenwart
Ein Sammelband über das „Das faschistische Jahrhundert“ möchte die neurechten Diskurse auf die Begriffe Abendland, Identität, Europa und Neoliberalismus hin abklopfen
Von Christopher Wimmer
Bereits 1932 sagte Mussolini ein faschistisches Jahrhundert voraus. Ob wir uns knapp 90 Jahre später in einem solchen befinden, versucht ein jüngst erschienener Sammelband zu beantworten. Vor dem Hintergrund eines weltweiten Anstiegs völkischer und nationalistischer Bewegungen, autoritärer Regime und rechten Denkens ist es notwendig, sich mit deren Herkunft und ihrer Begrifflichkeit zu beschäftigen.
Der Band „Das faschistische Jahrhundert“ versucht Traditionslinien und die Geschichte verschiedener Begriffe nachzuzeichnen, die entscheidend waren und sind für das Entstehen völkisch-nationalistischer, womöglich faschistischer Ideologien. Dabei tauchen unheilvolle Phrasen aus der Vergangenheit des 19. und 20. Jahrhunderts wieder auf, die in rechten Zusammenhängen überlebt haben und nun wieder salonfähig werden: Die Autor*innen des Buches stellen die Frage, welche Bedeutung diese Begriffe für aktuelle neurechte Bewegungen haben, die sich dezidiert auf die sogenannte Konservative Revolution und den Faschismus der 1920er Jahre beziehen.
Der Publizist Felix Korsch beschäftigt sich mit der Geschichte und Rezeption des Begriffs des „Abendlandes“. Sprichwörtlich geprägt hatte diesen Begriff der Antidemokrat und Wegbereiter des Nationalsozialismus Oswald Spengler in seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“. Stets sei das Abendland in Abgrenzung und Abwertung zu anderen – „den“ Mauren, Türken oder Muslimen – konstruiert worden, um sich selbst als überlegen darzustellen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Europa-Konzept der Neuen Rechten in den letzten hundert Jahren. Der Mitbegründer der Fachzeitschrift Der Rechte Rand, Volkmar Wölk, weist nach, wie sich unter dem Deckmantel „Europa“ immer wieder faschistische Bestrebungen gefunden haben.
Der Journalist Felix Schilk setzt sich mit dem Begriff des Neoliberalismus auseinander und findet erstaunliche Parallelen zur Konzeption der Ideengeschichte des Konservatismus. Beide gehen von der Ungleichheit der Menschen aus und sehen daher die Notwendigkeit von Hierarchie und Unterordnung. Die Anerkennung des Leistungsprinzips führt zu konservativem Elitedenken.
Die Rechtsextremismus-expert*innen Natascha Strobl und Julian Bruns schließen den Band dann mit einem Beitrag zur Identitären Bewegung ab und zeigen neben deren Entwicklung auch personelle Beziehungen zum neurechten Lager bis hinein in die AfD auf.
So lehrreich die einzelnen Beiträge in ihrer jeweiligen Thematik auch sind, so ratlos bleibt man am Ende zurück, ob wir uns nun in einem „faschistischen Jahrhundert“ befinden oder nicht. Die Beiträge beantworten diese Frage nicht oder negativ. Gleich zu Beginn äußert sich der britische Faschismusforscher Roger Griffin kritisch gegenüber der Annahme, die derzeitigen Entwicklungen überhaupt als „faschistisch“ zu bezeichnen. Dem zweifellos vorhandenen globalen Aufstieg autoritärer Regime fehle zumeist der dafür nötige nationale Erweckungs- oder Wiedergeburtsmythos.
Doch wer mit wachen Augen die Gesellschaft betrachtet, kann Terrorakte von Hanau bis Halle, rechte Netzwerke und Männerbünde in Polizei und Bundeswehr und Angriffe auf Geflüchtete nicht übersehen. Es fällt schwer, diese nicht als neue faschistische Bestrebungen zu bezeichnen.
Friedrich Burschel (Hg.): „Das faschistische Jahrhundert. Neurechte Diskurse zu Abendland, Identität, Europa und Neoliberalismus“. Verbrecher Verlag, Berlin 2020, 264 Seiten, 19 Euro
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