Späte Ermittlungen zum NS-Kinokomplex: Der Künstler als Propagandist
Kontinuitäten und Aussetzer: Der Fall Alfred Bauer und die Aktualität des „Beschweigens brauner Biographieanteile“.
Zu den anekdotischen Beschreibungen der Situation in Deutschland nach 1945 gehört das Erstaunen darüber, dass es keine Nazis mehr zu geben schien außer denen, die in unübersehbaren, hohen politischen Ämtern und militärischen Rängen exponiert waren. Ein Teil dieser NS-Täter wurde vor Gericht gestellt, andere flohen zum Beispiel nach Argentinien oder Ägypten, tauchten unter falschen Namen dort und in Deutschland unter und wurden oft erst nach Jahren und Jahrzehnten ermittelt und vor Gericht gestellt.
Der größten Gruppe aber gelang mit Strategien des Vertuschens und Fälschens, mit dem Herunterspielen der eigenen Verantwortlichkeit und dem Verweis auf eine systemische, bloß „erzwungene“ Mitläuferrolle der fließende Übergang ins neue „System“, dem sie sich dienstbar machten.
Es gehört zu den deprimierenden Erfahrungen der transformativen Prozesse, in denen die beiden deutschen Nachfolgestaaten sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges formierten, dass mit dem Wiedereinsetzen von Institutionen in der Verwaltung, der Wirtschaftsbetriebe und der Kultureinrichtungen Personalien in den Hintergrund traten.
Man könnte sagen, dass es sich dabei um verwaltungstechnisch effektive, wenn auch moralisch höchst zweifelhafte Praktiken handelte, bei denen man den politischen Stellenwert funktionierender Institutionen für den Aufbau einer Gesellschaft höher einschätzte als die politischen Biografien ihrer Funktionäre und Angestellten.
Willig der NSDAP beigetreten
So willig, wie man der NSDAP beigetreten war oder sich den institutionellen Regeln des NS-Regimes unterwarf, so willig folgte man den neuen Regeln, deren Befolgung sich als durchaus einträglich erwies. Der Philosoph Hermann Lübbe schuf das später als geflügeltes Wort in unterschiedlichen Argumentationskontexten verwendete Diktum „vom kommunikativen Beschweigen brauner Biografieanteile“.
Dieser Konsens lautete: Alle wissen, dass die Nazis als funktionale Chamäleons zu „ehemaligen“ Nazis geworden waren, die für die Gegenwart somit keine Rolle mehr spielten. Die „braunen Anteile'“ wurden so bereits kurz nach 1945 zur Geschichte erklärt. So konnte Personal kontinuierlich funktionale Stellungen einnehmen und besetzen, deren Biografien sie nicht dafür legitimierten.
Hermann Lübbe
Diese konservative Politik, die Institution über die Person zu stellen und die Institution als Kontinuum zu begreifen, das höchste politische Priorität genießt, galt für die Kulturbetriebe ebenso. Selbst die Ufa, die seit 1918 Großproduzent des deutschen Kinos war, lebt nach ihrer Einverleibung durch den NS heute in transformierter Gestalt weiter als Ufa Film und Fernseh GmbH im Bertelsmann-Konzern, als Kinokette et cetera.
Die Stars des NS-Films: Veit Harlan und Leni Riefenstahl, Hitlers mehr als willige Propagandaregisseure, Schauspieler wie Heinz Rühmann und Hans Albers – sie alle konnten weiter arbeiten, blieben Publikumslieblinge und reüssierten im Falle von Harlan und Riefenstahl als schillernd attraktive, „tragisch“ verstrickte, aber „richtige Künstler“, so Harlan im Prozess 1949 gegen ihn über sich selbst.
Antisemitische Zwischenrufe
Gewonnen hat Harlan den Prozess mit einem Freispruch, der erteilt wurde von einem Richter, der während der NS-Zeit mit Urteilen zur „Rassenschande“ hervorgetreten war und während des Prozesses gegen Harlan antisemitische Zwischenrufe aus dem Publikum zu jüdischen Zeugen ungerührt passieren ließ.
Immerhin wurde der Fall Harlans öffentlich kontrovers diskutiert im Zuge des Prozesses, der mit dem absurden Freispruch endete. Aber selbst dieser Prozess wurde gewonnen unter Bezug auf die Institutionenpolitik, in deren Windschatten der NS verleugnet und verharmlost wurde.
So widerlich die Lügen Riefenstahls und Harlans sind, so genau passen sie in das funktionalistische Legitimationsmuster. Weil sie ja „bloß“ Künstler waren, also bescheiden sich in ihre institutionelle Rolle zurückzogen, wurden sie politisch freigesprochen von ihrer persönlichen Verantwortung.
Riefenstahl und Harlan wurden sogar Kultfiguren einer Filmgeschichtsschreibung, die sie als deutsches Filmkunsterbe überzeitlich setzte. Die paradoxe Figur, dass prominente Figuren des NS-Films sich mit ein paar höchst durchschaubaren Lügen aus den eigenen „braunen Biografieanteilen“ herausdrehen konnten, zeigt den systemischen Rahmen an, in dem die Auseinandersetzung mit dem NS gedimmt worden war.
Künstler und politischer Funktionär
Die funktionale Überschreibung des Kunstsystems mit dem der politischen Propaganda-Institution lässt sich nicht nachträglich aufheben. Wer in dieser gedoppelten Institution mitgewirkt hat, hat eben doppelt mitgewirkt, als Künstler und als politischer Funktionär. Die Rolle des „bloßen“ oder, wie Harlan im Prozess sagte, „richtigen“ Künstlers konnte es in dieser Institution gar nicht geben. Der Auftrag war, als Künstler Propaganda zu erstellen. Und sie haben es getan. Unabhängige „richtige“ Kunst kann man das nicht nennen. Es ist „richtige“ NS-Kunst geworden.
In diesem Kontext einer systematischen Abspaltung des NS-Erbes in die Dunkelkammern der Geschichte, die als vergangen markiert wird, nimmt sich der Fall Alfred Bauers merkwürdig harmlos aus. Nicht etwa, weil er als Funktionär des NS-Filmapparats nicht genauso mit für diesen Verantwortung zu tragen gehabt hätte, sondern weil die Auseinandersetzung mit den populären Größen des NS-Films und ihrer politischen Funktion ausgeblendet scheint.
Was im unmittelbaren Umgang mit der NS-Filmgeschichte nach 1945 absichtsvoll verdrängt worden ist, kehrt auch jetzt noch nach über 70 Jahren nur als Bruchstück zurück.
Wieder steht eine Institution im Zentrum, die der Berliner Filmfestspiele, deren Leiter er war und die in seinem Namen einen Preis vergeben. Wer sich für die NS-Geschichte interessiert, hätte leicht herausfinden können, welche Funktion Bauer im NS-Film ausgeübt hat, aus den Aktenstapeln hätte er sich darüber informieren können, mit welchen Lügen er sich aus seiner eigenen NS-Geschichte herausgedreht hat.
Es interessierte keinen, dass Bauer Nazi war
Das Skandalöse ist nicht, dass hier aufgedeckt wird, dass Bauer Nazi war, sondern dass sich keiner dafür interessiert hat, solange er noch aktiv war in den bundesdeutschen Filminstitutionen. Bauers Fall ist das Ergebnis ebenjenes „kommunikativen Beschweigens brauner Biografieanteile“. Zynisch könnte man sagen, ein „ganz normaler Nazi“, wie Armin Jäger in der Zeit 10/20 resümiert, und ein „ganz normaler Funktionär“, wie er für diese Generation nicht untypisch ist.
Es ist gut und richtig, dass Historiker nun dieses Stück Biografie- und Institutionengeschichte bearbeiten, sie sollten nicht versäumen, die Nachkriegsgeschichte mit in den Blick zu nehmen. Denn die NS-Geschichte als Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart hört nicht mit der Zäsur 1945 auf.
Es scheint geradezu zwanghaft, dass sich das Verhältnis zu den neonazistischen, rechtsradikalen Gruppierungen heute als Wiederholung des Verhältnisses zu dem ungleich wuchtigeren historischen Zeitraum ausnimmt. Auch heute wird mit Vorliebe beschwiegen, dass es „braune Anteile“ gibt, um die Institution, die Stadt, das Dorf, die Firma vor „Rufschädigungen“ zu schützen. Strukturellen Antisemitismus darf es nicht geben, weil die Institutionen sonst Schaden nehmen könnten.
Nazis wie Neonazis wurden und werden deswegen immer nur als Einzelereignis, das sich unglücklicherweise ereignet hat, gesehen, das strukturelle Moment in ihrer Generierung wird ausgesetzt. Vielleicht gibt es dann in 70 Jahren Historikerkommissionen, die untersuchen dürfen, wie das „kommunikative Beschweigen brauner Anteile in Polizei und Militär“ normativ kontraproduktiv war für das Gelingen demokratischer Institutionen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“