Chilenen fordern Ja zur Verfassung

Nach einer friedlichen Großdemo brennen in Santiago zwei Kirchen

Ein Jahr nach dem Beginn einer Protestbewegung für mehr soziale Gerechtigkeit in Chile haben Zehntausende Menschen in der Hauptstadt Santiago demonstriert. Auf der Plaza Italia im Zentrum Santiagos herrschte am Sonntag ausgelassene Stimmung. Demonstranten sangen und tanzten, viele trugen Gesichtsmasken zum Schutz gegen das Coronavirus.

Stunden später kam es in der Stadt zu gewaltsamen Ausschreitungen. Unbekannte zündeten in Santiago zwei Kirchen an, darunter die Iglesia de San Francisco de Borja. Auf Fotos war zu sehen, wie auch der Turm einer zweiten Kirche, der Parroquía de la Asunción, einstürzte, weil die Struktur des Gebäudes den Flammen nicht mehr standhielt. Sie ist eine der ältesten Kirchen Santiagos. Außerdem wurden Supermärkte geplündert und Straßenbarrikaden errichtet. Die Behörden sprachen am frühen Abend von etwa 18 bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei verletzten Beamten.

Innenminister Víctor Pérez verurteilte die Brandanschläge „auf das Schärfste“ und betonte gleichzeitig, dass die Metro und die gesamte kritische Infrastruktur angemessen geschützt worden seien. Bereits am Freitagabend hatte es im Vorfeld des Jahrestages gewaltsame Proteste gegeben.

Bruch mit Pinochet-Ära

Am kommenden Sonntag stimmen die Chilenen darüber ab, ob die Verfassung des südamerikanischen Landes überarbeitet werden soll. Viele Demonstranten forderten, bei der Abstimmung mit Ja zu stimmen. Die aktuelle Verfassung stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990), der eine neoliberale Politik verfolgte und unter anderem die Altersversorgung sowie das Bildungswesen privatisierte.

„Das ist die Chance zu sagen: Es reicht“, sagte Paulina Villarroel, eine 29-jährige Psychologin. „Wir werden mit Ja stimmen.“ Die wegen Corona verschobene Abstimmung über die Verfassung war ein Zugeständnis der Regierung nach monatelangen Protesten.

Die Proteste hatten am 18. Oktober 2019 nach einer Erhöhung der Ticketpreise im öffentlichen Nahverkehr begonnen. Die Demonstranten kritisierten dann aber auch niedrige Löhne, hohe Kosten für Bildung und Gesundheit sowie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Die Demonstrationen zählten mit zwischenzeitlich mehr als einer Million Teilnehmern zu den größten in der Geschichte des Landes. Immer wieder kam es dabei zu gewalttätigen Konfrontationen zwischen Teilnehmern und den Sicherheitskräften.

„Ich bin gekommen, um etwas zu feiern, das ich mir in Chile seit der Rückkehr zur Demokratie nie hätte vorstellen können“, sagte die 68-jährige Ärztin Olga Neira, die die Demonstration am Sonntag mit ihrer Tochter besuchte. Sie glaube fest an ein Ja bei der Abstimmung über die Verfassung. (afp, epd)