Segeln unter dem Meeresspiegel

In der niederländischen Provinz Noord-Holland wurde das Land dem Meer abgetrotzt. Wiesen, Wasserwege und Binnenseen sind künstlich angelegt. Auf einem Windjammertörn über das Ijsselmeer wird der Blick auf die Welt ein anderer

„Wo heute der Yachthafen ist, schwappte vor 15 Jahren noch das Meer“

VON GUNDA SCHWANTJE

Der Blick aus dem Hotelzimmer wirkt bizarr: Auf einem Damm stehen Sommerhäuser, in zwei schnurgeraden Reihen und dicht an dicht, als wollten sie einander stützen bei Wind. Davor ein schmaler Streifen Sand, das ist der Strand. Von den Freizeitdomizilen aus hat man einen freien Blick über eine Kanalmündung. Auf Dünen. Und auf das Meer. Die einzige Stahlfabrik der Niederlande mit einem Dutzend qualmender Schornsteine ist hinter den Ferienhäusern, am anderen Ufer des Nordseekanals. Fünf Windräder und ein Leuchtturm sind zu sehen, Ozeanriesen schieben sich vorbei. Am Himmel Flugzeuge im Senkflug auf Schiphol und unten liegt der Yachthafen Ijmuidens hinter einem hohen gemauerten Schutzwall. Ein Fensterblick mit interessanten Kontrasten und ein Synonym für Holland.

Sie ist vom Meer umschlungen, die Provinz Noord-Holland im Nordwesten der Niederlande, und dort liegt Ijmuiden und Amsterdam, Monnickendam, Den Helder. Sie ist eine Halbinsel, ist reich an Wasser mit 260 Kilometer Küste an Nordsee und Ijsselmeer. Dünen, Strände, Flüsse, Kanäle, Binnenseen. Deiche.

Und vor allem Polder. Polder meint trocken gelegtes Land. Denn: Bis auf einen schmalen Dünenstreifen entlang der Nordsee ist Noord-Holland dem Wasser abgerungen und liegt stellenweise bis zu fünf Meter unter dem Meeresspiegel. “Gott schuf die Welt, die Holländer die Niederlande“, weiß ein Sprichwort und genau so machen sie das in großem Stil seit 1608: Wenn sie Land brauchen, dann trotzen sie es dem Meer ab unter enormer Kraftanstrengung und Zusammenarbeit und verteidigen es mit allen Mitteln der Ingenieurbaukunst gegen die See. Heutzutage mit Sand, Stahl, Beton und Hydraulik. Wollen sie Wasser als Reiserouten für ihre Handelsschiffe, als Entwässerungssystem, dann graben sie Kanäle, errichten Pumpwerke (die berühmten holländischen Windmühlen sind Schöpfwerke) und gigantische Schleusen. Wie in Ijmuiden, wo der Nordseekanal Amsterdam und das Ijsselmeer mit dem Ozean verbindet und die Nordsee durch die Schleuse davon abgehalten wird, ins Land zu laufen.

Wo heute der Yachthafen ist mit dem Hotel, den Restaurants und der Promenade zum Flanieren, dort schwappte vor 15 Jahren noch das offene Meer auf die Küste zu. „Hier stand damals Wasser“, sagt Jacob Balvers und zeigt auf die andere Straßenseite. Balvers ist pensioniert, er ist aus Amsterdam zugezogen (wie so viele hier) und führt nun Besucher durch Monnickendam. „Hier haben Mönche den ersten Deich gebaut vor gut 700 Jahren“, erklärt der ehemalige Lehrer. Die Bewohner seien praktisch immer mit nassen Füßen herumgegangen in einer Landschaft aus Sumpf, Moor, Seen und dem offenen Meer nicht weit von der Haustür.

Wer in Amsterdam den Tunnel nach Norden nimmt, taucht unter dem Ij hindurch und landet auf bestechend flachen Wiesen und könnte schnell in Monnickendam sein. Stille Straßen, Grachten, schmucke, schmale Giebelhäuser, eine holländische Idylle mit 10.000 Einwohnern. Sie hat sich fein gemacht, diese 650 Jahre alte Stadt.

„Die holländischen Maler waren Pioniere des Tourismus“, erzählt Jacob Balvers bei einem Spaziergang durch die gut erhaltene Altstadt. Ihnen sei es nicht nur gelungen, das außerordentliche Licht auf die Leinwand zu bringen, für das die Niederlande berühmt sind. Die alten Meister hätten auch die Betrachter ihrer Werke animiert zu reisen. „Man wollte die Menschen in den Trachten und diese Orte mit eigenen Augen sehen“, sagt Jacob Balvers. So wurde das ehemalige Fischerdorf Volendam am Ijsselmeer Touristenattraktion, und Marken, die Fischerinsel vis à vis, die seit 1957 über einen Damm ans Festland angedockt ist. Monnickendam jedoch, der schlichten, trachtenlosen Schwester nebenan, machte kaum einer die Aufwartung. Das ist bis heute so. Das hat seinen Reiz.

Mit einer Schaluppe, einem Picknickboot mit Elektromotor, auf dem Ijsselmeer herumschippern oder das Land von den Kanälen aus betrachten kann man von Monnickendam aus. Oder mit einer Segeljacht in See stechen und sich nach Volendam hinüberwehen lassen. Wo Busladungen anlanden mit Passagieren aus aller Welt, die alle auf einer kurzen überfüllten Promenade das Holland der Frau Antje besichtigen wollen, mit Windmühlen und Klompen und Tulpen aus Porzellan und Holz in den Souvenirshops und Fisch und Käse in den Vitrinen. Wo erwartungsgemäß Niederländer in Trachten die Straße entlangschreiten. Fürs Geschäft. Fürs Foto. In Marken säumen grün gestrichene Holzhäuser auf Stelzen den Hafen. Eine malerische Kulisse, angereichert mit farbsatten Wiesen, denn an Wasser herrscht kein Mangel in Noord-Holland, und hübschen alten Holzbrücken. Auch Marken läuft tags voll mit Touristen.

„Gott schuf die Welt, die Holländer die Niederlande“, weiß ein Sprichwort

Lieber flott aufs Meer. „Die Winde drehen“, ruft Ineke Lighthart, der weibliche Matrose. Dem Mann an der Winde wird bald heiß, denn das schwere Großsegel fisselt sich nur langsam den Mast hoch. „Die Seile festmachen“, ruft Ineke Lighthart. Das dauert, denn diese Knoten sind gewöhnungsbedürftig. Wir setzen Segel für einen Törn auf dem Ijsselmeer, mit der Eersteling, einem Tjalk, Windjammer. „Früher hat sie Mist, Kartoffeln und Steine befördert“, sagt Kapitän Herbert Kamphuis, 40, „jetzt kann sie 20 Leute beherbergen in der Nacht.“ Wind spielt in den fünf Segeln, zu hören ist das stille Plätschern des Wassers, es riecht nach Meer, und das berührt die Nerven. Vom Wasser aus ist der Blick auf die Welt binnen Kurzem ein anderer. Der Horizont wird weiter, und das hat sich herumgesprochen. „Ich fahre gut 100 Tage im Jahr“, sagt Herbert Kamphuis. Oft Jugendgruppen ins Wattenmeer, wo er die Eersteling trockenfallen lässt bei Ebbe, denn dies ist ein Flachbodenschiff. Und wenn sie ihm zu hektisch werden, die Jugendlichen, dann lässt er sie zur Beruhigung das Deck schrubben. Oder zeigt, wie man Knoten macht. Mit seinem wettergegerbten Gesicht steht Herbert Kamphuis am Ruder seines Traditionsseglers und hält Kurs. Belegschaften kommen, um auf dem Meer das Arbeitsklima nachhaltig zu heben, weil Kollegen einander frei von Hierarchien erleben und an einem Strang ziehen müssen, denn „beim Segeln ist Teamgeist gefragt, jeder muss mit zupacken“, sagt der Kapitän. Rund 360 Windjammer liegen in den Gewässern der Niederlande. 120 davon können über die Zeilvaart, einer Agentur der Skipper, gechartert werden für Hochzeitsfeiern, Individualreisen, von Reisenden jeden Alters für Törns, vor allem auf dem Ijsselmeer.

Auch das größte Binnenmeer der Niederlande, das einst Zuiderzee hieß, ist selbst gemacht. Durch ein Bollwerk in der Nordsee. 30 Kilometer ist er lang, der Abschlussdeich, und seit 1932 vollendet. In jeder Region ist die Stimme des Wassers zu hören und gefürchtet, sie erzählt von endlosen Katastrophen, heißt es sinngemäß in einem Gedicht, und auch die Siedler der Zuiderzee waren wieder und wieder in Not geraten. Seit 1932 sei mit den schweren Sturmfluten Schluss, hatte Jacob Balvers in Monnickendam erzählt, und dass die Menschen sich nun sicher fühlen. Allerdings drohe neue Gefahr wegen des steigenden Meeresspiegels, sagte er auch.

Aus Salz- ist Süßwasser geworden: das Ijsselmeer ist heute Trinkwasserreservoir. Und Erholungsraum: Freizeit auf und am Wasser stehen hoch im Kurs bei den Einheimischen, es ist ihr Element, auch im positiven Sinne. Und diese kleine Nation – sie zählt heute gut 16 Millionen Einwohner – ist zu großem Reichtum gekommen durch die Seefahrt und ihre Handelsflotte. Im 17. Jahrhundert. Dem Goldenen. Auf Großseglern und in waghalsigen Expeditionen sind sie bis nach Indonesien vorgerückt und haben Gewürze, insbesondere Pfeffer, das schwarze Gold, besorgt und Porzellan und Seide und damit ein Vermögen verdient und waren damals wohlhabender als alle Nachbarn ringsum. Die Tradition des Handels lebt: Rotterdam ist der bedeutendste Seehafen Europas.

Auch in den Häfen rund um das Ijsselmeer ist das nautische Erbe gegenwärtig und in den Helder an der Nordsee. Dort liegt seit 2004 der Großsegler „Prins Willem“, ein Schiff der Vereinigten Ostindischen Kompanie, originalgetreu nachgebaut und ein Schmuckstück für jene, die von alten Segelschiffen fasziniert sind. In diesem August wird der Viermaster die Leinen losmachen und Segel setzen für eine Minireise, nach Ijmuiden, und eines der größten maritimen Events der Welt anführen: die Sail 2005. Eine Flotte von 20 Drei- und Viermastern und 500 historische Segel- und Motorschiffe, ein fahrendes Museum also, schippert dann den Nordseekanal hinauf, den Ij hinauf bis nach Amsterdam, der Metropole auf Pfählen, im Wasserreich Noord-Holland.

Infos unter: www.vaarwaterland.nl, www.amsterdamcityonthewater.com (Sail 2005), www.zeilvaart.com (Windjammer chartern), www.waterlandyacht.nl (Boote in Monnickendam)