Durch Kastanienwälder

Nicht nur im Frühjahr, wenn die Kamelien blühen, verspricht Wandern im Tessin Erholung und Genuss. Das Mikroklima im südlichsten Teil der Schweiz überrascht. Eine Wanderung vom Monte Veritá nach Askona

Wandern im Tessin Foto: Monica Gumm/laif

Von Andreas Hergeth

Tee aus dem Tessin wäre echt mal ein überraschendes Mitbringsel. Denn auf dem Monte Veritá gedeiht Tee prächtig, es gibt eine Teeplantage – die einzige in der Schweiz. Doch daraus wird leider nichts, denn die letzte Ernte ist längst ausverkauft. „Wir ernten im Durchschnitt nur ein bis zwei Kilogramm“, erläutert Corinne Denzler bei einer Verkostung allerhand Teesorten – nur eben keiner Tessiner Variante.

Die rund 1.400 Teepflanzen wachsen hier seit 2006, Peter Opplinger, ein ehemaliger Apotheker und Spezialist für Natur- und Pflanzenheilkunde hatte damals Pioniergeist bewiesen. „Botanisch gesehen ist Tee ja eine Kamelienart“, sagt Denzler und würde gut zum Monte Veritá, diesem „spirituellen Ort“, passen. Der wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Pazifisten, Lebensreformern, Anhängern unterschiedlicher alternativer Bewegungen, Künstlern und Schriftstellern – Stichwort Hermann Hesse – bevölkert. Sie alle wollten „die Wahrheit suchen und finden“, erzählt Denzler, daher komme der Name des Hügels. Hier oben wurde 1927 ein imposanter Gebäudekomplex im Bauhaus-Stil errichtet, heute beherbergt er Kongresshotel, Restaurant und Kunstmuseum.

Tee auf einem Tessiner Berg? Das botanische Wunder macht das „einzigartige Mikroklima“ im südlichsten Kanton der Schweiz möglich. Und „der saure Boden, der ist gut für Teepflanzen“, sagt Corinne Denzler, die zusammen mit ihrem Mann Tobias das „Casa del Tè“, die Plantage samt Teegeschäft, seit drei Jahren betreibt.

Für die Teeernte werden jedes Jahr zwei Rentner aus Japan eingeflogen, die per Hand die ersten zwei, drei Blätter und die Knospe abpflücken, mehr nicht. „Daraus machen wir grünen Tee“, erzählt Denzler während der Teeprobe. Der wird dann ziemlich teuer für 34 Franken verkauft, zu kleinen Portionen von je 20 Gramm. Die gehen weg wie nichts, spätestens zum Teefest, das alljährlich Ende Mai stattfindet, ist der Tee ausverkauft.

Schade. So muss als Mitbringsel dann doch der fabelhafte Tessiner Weißwein herhalten. Den gibt es nach dem Abstieg vom Monte Veritá halbwegs günstig in der Filiale einer Schweizer Supermarktette am Piazza Grande in Locarnos Altstadt zu kaufen.

Berühmt ist der Tessin für seine üppige Blütenpracht und die mediterrane Pflanzenwelt voller Palmen und exotischen Bäumen. Deshalb ist für botanische Wanderungen das Frühjahr die empfehlenswerte Jahreszeit, wenn es überall grünt und blüht. Passend dazu findet in Locarno am letzten Märzwochenende jeden Jahres das Kamelienfest im Kamelienpark von Locarno statt. Die 23. Auflage dauert vom 19. bis 21. März 2021. „Camelie Locarno“ zählt zu den weltweit bedeutendsten Ausstellungen, die der „Symbolblume des Frühlings“ gewidmet ist. Das Spektakel mit Sonderzuchten und Raritäten findet direkt am Lago Maggiore statt, wo es auf mehr als 10.000 Quadratmeter an die 1.000 verschiedene Kameliensorten zu sehen sind (wir erinnern uns: Tee gehört zur Familie der Kamelien).

„Die Kamelie braucht sauren Boden“, erzählt Gärtner Danielle Marcacci beim Spaziergang durchs Blütenmeer, und den gibt es im Tessin nun mal fast überall. „Und das Klima passt.“ Wobei Letzteres auch im Tessin für immer größere Probleme sorgt. Der Winter in diesem Jahr war „viel trockener ausgefallen als üblich“, erzählt Marcacci, und es war selbst „für unsere Verhältnisse viel zu früh viel zu warm“. Deshalb setzte die Kamelienblüte früher als normal ein, sodass zum diesjährige Termin des Kamelienfestes schon einige Kamelien teils oder ganz verblüht waren.

Ein Problem, das sich, je höher man steigt, automatisch nach oben verlagert. Blüht es unten am Ufer des Lago Maggiore schon wie verrückt, legen die Kamelien auf den Hügeln und in den Bergen ringsum erst langsam los, wie eine Wanderung vom Monte Veritá ­hinunter nach Ascona bestens belegt. Über rund 800 Treppen führt der Weg, teils durch alte Buchen- und Kastanienwälder, hinunter. Jetzt heißt es aufpassen, das ist nichts für ungeübte Wanderer.

Beste Reisezeit

Für Wanderungen im Tessin ist das Frühjahr und der Herbst geeignet. Wer auf botanischen Spuren wandeln möchte, bevorzugt natürlich den Frühling. ticino.ch/de.

Mobil vor Ort

Der südlichste Kanton der Schweiz ist sehr gut per öffentlichen Personennahverkehr zu erkunden. Alle Touristen, die in Hotels, Jugendherbergen und Campingplätzen übernachten, erhalten das Tecino Ticket, damit ist im gesamten Tessin Bus- und Bahnfahren kostenlos, ticino.ch/ticket.

„Wandern“ geht im beschaulichen Tessin natürlich auch anders. Per Schiff zum Beispiel: Weil wir – eine Gruppe deutscher ReisejournalistInnen – in den „Botanischen Garten Eisenhut“ wollen, brechen wir am frühen Morgen mit dem Schiff über den Lago Maggiore auf. Um 8 Uhr sind wir die Einzigen an Bord und haben den schönen See in aller Stille für uns ganz allein, steigen in San Nazzaro aus und erklimmen den Hügel in Richtung Vairano. Die Sonne steht noch nicht so hoch. Nach gut eineinhalb Stunden leichter Wanderung empfängt uns Hausherr Reto Eisenhut. Sein Vater Otto hat in den 1950er Jahren auf einer Hügelterrasse einen 17.000 Quadratmeter großen botanischen Garten nebst Gärtnerei und Baumschule angelegt. Rund 40.000 Besucher zählt der „Botanischen Garten Eisenhut“ jedes Jahr. Das kommt nicht von ungefähr.

„Wir haben hier die größte Magnoliensammlung der Welt“, erzählt Reto Eisenhut. Magnolien haben übrigens einen Vorteil gegenüber Kamelien: Die Magnolienblüte währt, „weil es frühe und späte Sorten gibt, viel länger – von Ende Februar bis Mitte Juni“, erzählt der Fachmann.

Eisenhut arbeitet übrigens wie ein Biobauer, ohne ein Biolabel zu besitzen. „Ich mache das aus freien Stücken, wenn ich auf künstlichen Dünger oder Insektizide so weit es geht verzichte“, sagt er und führt durch sein grünes Reich. Das ist einerseits akkurat gepflegt, andererseits herrlich zugewuchert, ja geradezu verwunschen: Hier wachsen nebeneinander an die 950 verschiedene Kamelien, 800 unterschiedliche Magnolien, dazu Azaleen, Rhododendren, Pfingstrosen, Farne und Wacholder, ein wahres Paradies für Pflanzenfans. Und in der Baumschule stehen 400 verschiedene Zi­trussorten.

Auf zur nächsten Wanderung. Doch was ist das da unten im Tal? Okay, Palmen, Zitronen und Kamelien im Tessin sind nichts Ungewöhnliches. Aber ist das wirklich ein Reisfeld? Sieht zumindest so aus.

Mit nur 198 Metern über dem Meeresspiegel ist das sogenannte Maggia-Delta bei Ascona und Locarno das am tiefsten gelegene Gebiet der Schweiz. Es handelt sich um sandig-lehmiges Schwemmland – und das sind „perfekte Voraussetzungen für den Anbau von Reis“, sagt Markus Giger, als Betriebsleiter verantwortlich für den Ackerbau von Terreni alla Maggia. Auf 89 Hektar wird dort Reis angebaut; angefangen hatte alles mit zwei „Hektaren“, wie es auf Schweizerdeutsch heißt.

Das war 1997, erinnert sich Giger. Damals waren die Preise für Kartoffeln, Saatmais und Soja eingebrochen, Subventionen fielen weg, und man musste sich nach lukrativen Alternativen umschauen. Und da kam das Unternehmen auf den Reis. „Es gibt schließlich nur 160 Kilometer von uns entfernt Reisfelder“, sagt der Fachmann, im Pie­mont; Italien ist der größte Reisproduzent in Europa. Von dort holt der Tessiner noch heute den Saatreis. Eine bestimmte Sorte, ausgewählt aus 50 verschiedenen. „Eine, die gut ist für Risotto“, nennt Giger eine Bedingung. Und eine zweite: „Es sollte eine frühreife Sorte sein.“

„Wir haben hier die weltgrößte Sammlung von Magnolien“

Reto Eisenhut, Gärtner

Die Reissorte „Loto“ aus der Po-Ebene benötigt vom Aussäen Ende April oder spätestens Anfang Mai bis zur Ernte im Oktober rund 145 Tage. „Andere Sorten, die länger brauchen, werden bei uns nicht reif.“ Fast 20 Tonnen Saatgut kommen in den Tessiner Boden. „Wir bauen den Reis trocken an“, erklärt Giger, die Pflanzen müssen also nicht im Wasser stehen – das spart bis zu 60 Prozent Wasser. „Wir haben eine moderne Beregnungsanlage, die ein- bis zweimal die Woche läuft, das reicht.“ Das ist in etwa so wie einen Rasen wässern.

Markus Giger nennt den Reis ein Nischenprodukt. Damit ist die Menge gemeint. Nicht die Qualität. Die ist so gut, dass Schweizer Sterneköche ihr Risotto mit dem heimischen Reis kochen, so wie Spitzenkoch Matthias Roock im Fünfsternehotel „Castello del Sole“ in Ascona, das zum Betrieb gehört, der auch Mais, Weizen und Obst anbaut und für seinen Wein bekannt ist.

Von den 450 Tonnen geerntetem Rohreis – noch vor Ort getrocknet und entspelzt – geht der Halbrohreis in eine von zwei Schweizer Reismühlen. Am Ende bleibt etwa die Hälfte als Weißreis, also geschält, sortiert und poliert, für den Verkauf im eigenen Hofladen und in verschiedenen Supermarktketten der Schweiz. Giger selbst isst nur noch seinen eigenen Reis. Tessiner lieben eben Risotto. „Im Frühling mit Spargel oder Brennnesseln“, schwärmt der Betriebsleiter, „und jetzt im Herbst natürlich mit unseren guten Waldpilzen.“

Und na ja: „Die Sommer werden immer wärmer, oder?“ Da könnte man es auch bald in Deutschland mit dem Reisanbau versuchen. Aber das sind ja eigentlich keine rosigen Aussichten.