Von Pakistan aus in den Untergrund

Das Land beherbergt tausende radikale Koranschulen. Auch die Londoner Attentäter verkehrten dort

DELHI taz ■ U-Bahn-Anschläge in London, ein Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan, eine Zunahme von Suizid-Attentaten im indischen Kaschmir. Der gemeinsame Ausgangspunkt dieser Ereignisse und Entwicklungen heißt: Pakistan. Drei der vier London-Bomber sind möglicherweise in Pakistan rekrutiert oder gar ausgebildet worden. Zu Wochenbeginn erklärte der afghanische Präsident Hamid Karsai, auf Besuch in Großbritannien, die Zunahme der Taliban-Präsenz in seinem Land sei auf das Weiterbestehen von Terror-Camps im pakistanischen Grenzgebiet zurückzuführen. Und Indiens Generalstabschef sagte am gleichen Tag in Delhi, an der kaschmirischen Waffenstillstandslinie beobachte die Armee vermehrt wieder Übertritte von Untergrundkämpfern aus Pakistan, wo immer noch zahlreiche Ausbildungscamps vorhanden seien.

Die weltweite Empörung über die U-Bahn-Attentate bewog Pakistans Behörden zum Handeln. Seit Wochenbeginn ist es in mehreren Städten zu Polizei-Razzien in Koranschulen, den so genannten Madrassen, in religiösen Seminaren und Privathäusern gekommen. Rund vierhundert Verdächtige – radikale Prediger, islamische Politiker, Studenten – wurden verhaftet.

Gestern fanden in Karatschi, Islamabad und Lahore nach dem Freitagsgebet Demos gegen die Verhaftungen statt. Die MMA, eine Koalition islamischer Parteien, hatte dazu aufgerufen. Beim Gebet hatten die meisten Prediger die Attentate in London vom 7. Juli und vom Vortag verurteilt; viele verteidigten aber auch das Recht der Muslime, für ihren Glauben einzustehen.

Am Tag zuvor hatte sich Präsident Pervez Musharraf im Fernsehen an die Bevölkerung gewandt und diese zum „heiligen Krieg“ gegen den grassierenden religiösen Extremismus aufgerufen. Er gab zu, dass die Attentate in London dem Ruf Pakistans und des Islam geschadet haben. Er wies aber Vorwürfe, dass sein Land dafür verantwortlich sei, mit scharfen Worten zurück. Musharraf drehte den Spieß vielmehr um und erklärte, Großbritannien müsse zu Hause viel mehr unternehmen, wenn es den Terrorismus in den Griff bekommen wolle. Noch immer gebe es Gruppen, die dort ungestraft tätig sein dürfen, obwohl eine von ihnen auch zum Mord an ihm selber aufgerufen habe.

Doch weder Musharrafs klare Absage an den religiösen Extremismus noch sein Entschluss, alle religiösen Schulen bis Jahresende staatlich registrieren zu lassen, werden das internationale Misstrauen gegenüber Pakistan beheben. Bereits 2002 hatte der Präsident ein Vorgehen gegen Madrassen angekündigt und auch später immer wieder versprochen, die rund 13.000 religiösen Schulen der staatlichen Aufsicht zu unterstellen. Die Folgen waren jedoch nur kosmetischer Natur. Die radikalen Lehrer und ihre politischen Schutzpatrone wurden vorsichtiger mit öffentlichen Brandreden, und die Medien erhielten kaum noch Zugang zu bekannten islamistischen Kaderschmieden, wie etwa der Haqqania-Schule nahe Peshawar, wo zahlreiche Taliban ihre Ausbildung erhalten hatten.

Das Haupthindernis eines scharfen Vorgehens gegen die islamistischen Kaderschmieden ist die staatliche Ideologie Pakistans. Bereits bei früheren Verhaftungen mussten Lehrer oder Studenten nach kurzer Zeit wieder freigelassen werden, weil ihre radikale Koran-Interpretation durchaus im Rahmen des staatlichen Selbstverständnisses liegt, das in den letzten Jahrzehnten immer stärker islamistische Züge angenommen hat. „Pakistan hat religiöse Gefühle genutzt, als Mittel zur Stärkung der eigenen Identität“, so Exinformationsminister Husain Haqqani. Dies sei der Grund, warum das Land heute ein „bedeutendes Zentrum des islamischen Extremismus“ sei.

Selbst nach den Ereignissen von 2001 ist es nicht zu einer radikalen Kehrtwende gekommen, sei es aus innenpolitischem Zwang oder weil das Regime weiterhin mit dem Feuer der Religion zu spielen beliebt. Es war Musharraf gewesen, der in den Wahlen vor zwei Jahren die islamischen Parteien gefördert hatte, um einen Wahlsieg der beiden demokratischen Volksparteien von Nawaz Sharif und Benazir Bhutto zu verhindern. Bis heute ist er von ihrer Unterstützung im Parlament abhängig. Die islamischen Parteien nützen dies weidlich aus, indem sie verhindern, dass der Staat im Bereich der Erziehung dem Versprechen einer Säuberung von radikalen Elemente nachkommt. Musharrafs bisheriger Misserfolg lässt Beobachter vermuten, dass die Islamisten weiter auf Unterstützung in Armeekreisen zählen können. Diese lehnen sich zwar nicht gegen Musharraf auf, sind aber dazu fähig, seine Autorität weitgehend wirkungslos zu machen.

BERNARD IMHASLY